Innere Emigration

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Als Innere Emigration im weiteren Sinn wurde nach 1945 die Haltung von Intellektuellen, vor allem von Schriftstellern während der NS-Zeit bezeichnet, die dem Nationalsozialismus zwar kritisch gegenübergestanden, sich ihm aber weder offen widersetzt hatten noch ins Exil gegangen, sondern in Hitler-Deutschland geblieben waren.

Im engeren Sinn steht „Innere Emigration“ neben der Exilliteratur und der NS-Literatur als literarische Epochenbezeichnung für die Zeit von 1933 bis 1945. Der Begriff ist ambivalent und wird in einigen Werken zur deutschen Literaturgeschichte nur in Anführungszeichen verwendet,[1] da er einerseits eine tatsächliche Form geistiger Opposition beschreiben kann, andererseits aber vielfach apologetisch verwendet wurde, um mangelnden Widerstand und bloßen Opportunismus zu verbrämen.

Mitunter wird auch die Haltung heimlicher Dissidenten in anderen Diktaturen als dem NS-Staat als „Innere Emigration“ bezeichnet. Die Anwendung des Begriffs auf Teile der Literaturszene der DDR ist umstritten.

Entstehung des Begriffs

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Formulierungen wie „Emigrantenleben im Vaterlande“ waren vereinzelt schon während der NS-Zeit verwendet worden und zwar sowohl von exilierten Autoren als auch von solchen, die in Deutschland geblieben waren. Zu einem stehenden – und sofort umstrittenen – Begriff wurde „Innere Emigration“ aber erst 1945 durch Frank Thiess[2] der die entsprechende Haltung in einer Kontroverse mit Thomas Mann für sich und andere Autoren in Anspruch nahm.

Zu dieser publizistischen Auseinandersetzung kam es, nachdem die Bayerische Landeszeitung am 18. Mai 1945 unter dem Titel Thomas Mann über die deutsche Schuld dessen 10 Tage zuvor ausgestrahlte Rundfunkrede veröffentlicht hatte. Darin hieß es:

„Der dickwandige Folterkeller, zu dem der Hitlerismus Deutschland gemacht hat, ist aufgebrochen, und offen liegt unsere Schmach vor den Augen der Welt (…) «Unsere» Schmach, deutsche Leser und Hörer! Denn alles Deutsche, alles, was deutsch spricht, deutsch schreibt, auf deutsch gelebt hat, ist von dieser entehrenden Bloßstellung mitbetroffen.“

Thomas Mann: Deutsche Hörer![3]

Als Reaktion darauf forderte Walter von Molo, wie Mann vor 1933 Mitglied der Sektion Dichtkunst der Preußischen Akademie, den Nobelpreisträger in einem am 8. August 1945 in der Berliner Allgemeinen Zeitung abgedruckten Offenen Brief zur Rückkehr nach Deutschland auf und warb für ein Zusammenwirken der „äußeren“ und der „inneren“ Emigranten:

„Kommen Sie bald wie ein guter Arzt, der nicht nur die Wirkung sieht, sondern die Ursache der Krankheit sucht und diese vornehmlich zu beheben bemüht ist (...), vor allem bei den zahlreichen, die einmal Wert darauf gelegt haben, geistig genannt zu werden ...““

Walter von Molo[4]

Noch bevor Mann, der keine Neigung hatte, wieder in Deutschland zu leben, Molo antworten konnte, veröffentlichte Frank Thiess am 18. August in der Münchener Zeitung den Artikel „Die innere Emigration“. Anders als Molo verteidigt er offensiv die Haltung der Daheimgebliebenen:

„Auch ich bin oft gefragt worden, warum ich nicht emigriert sei, und konnte immer nur dasselbe antworten: Falls es mir gelänge, diese schauerliche Epoche (über deren Dauer wir uns freilich alle getäuscht hatten) lebendig zu überstehen, würde ich dadurch derart viel für meine geistige Entwicklung gewonnen haben, daß ich reicher an Wissen und Erleben daraus hervorginge, als wenn ich aus den Logen und Parterreplätzen des Auslands der deutschen Tragödie zugeschaut hätte.“

Frank Thiess: Die innere Emigration[5]

Thomas Mann reagierte zunächst weder auf Molos Brief noch auf Thiess' Replik. In einem privaten Schreiben vom September 1945 äußerte er sich höchst verärgert:

„Es ist schwer erträglich, daß diese Leute, die, weil sie nie den Mund gegen den heraufkommenden Schrecken aufgetan hatten, in der angenehmen Lage waren, zu Hause bleiben zu können, sich nun als die eigentlichen Helden und Märtyrer präsentieren, die dem Vaterland treu geblieben sind und mit ihm gelitten haben, während wir anderen im Auslande ein bequemes Zuschauerleben führten. Wenn Frank Thieß die Absicht gehabt hätte, die Kluft zwischen innen und außen unheilbar zu erweitern, hätte er nicht anders schreiben können, als er getan hat.“

Thomas Mann: Tagebücher[6]

Am 20. September 1945 notierte er in seinem Tagebuch: „Beunruhigung und Ermüdung durch die deutschen Angriffe dauern an. Nenne die ‚treu‘ in Deutschland Sitzengebliebenen ‚Ofenhocker des Unglücks‘“.[7]

Öffentlich ignorierte Mann Frank Thiess. Dagegen antwortete er Walter von Molo in einem gleichfalls offenen Brief am 12. Oktober 1945 im Augsburger Anzeiger. Darin lehnte er eine Rückkehr fürs erste ab, ergriff aber die Gelegenheit, sich generell zur deutschen Literatur der NS-Zeit zu äußern, zu der auch etliche von Thiess' Werken zählten:

„Es mag Aberglauben sein, aber in meinen Augen sind Bücher, die von 1933 bis 1945 in Deutschland überhaupt gedruckt werden konnten, weniger als wertlos und nicht in die Hand zu nehmen. Ein Geruch von Blut und Schande haftet ihnen an. Sie sollten eingestampft werden.“

Thomas Mann: Warum ich nicht zurückkehre![8]

Zugehörigkeit zur „Inneren Emigration“

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Einige Autoren und Künstler die während der NS-Zeit der „Inneren Emigration“ zugerechnet wurden, hatten zeitweilig oder kontinuierlich in Widerstandszirkeln mitgearbeitet und durch die durch Verbreitung ihrer Werke im Untergrund der NS-Propaganda entgegengewirkt. Beispielsweise malte der Bauhaus-Künstler Emil Bartoschek für die Öffentlichkeit naturalistische Bilder, während er für einen kleinen Kreis weiterhin die abstrakte Kunst pflegte.

Nach dem Krieg wurde auch „beredtes Schweigen“ als eine Form von Kritik an den Nazis gesehen, als gegenposition zu denjenigen, die sich den Nationalsozialisten aktiv angeschlossen oder deren Standpunkte aktiv vertreten hatten. (Siehe auch: Passiver Widerstand, ziviler Ungehorsam, Widerstand (Politik)).

U. a. wurden folgende Autoren und Bildenden Künstlern der Inneren Emigration zugerechnet:

Andere Autoren wie Gottfried Benn[10], Ernst Jünger[10], Walter von Molo oder Frank Thiess[9] verstanden sich nach dem Zweiten Weltkrieg gerne als Repräsentanten der Inneren Emigration; ihre seinerzeitige Tätigkeit wie auch ihre Schriften lassen sich jedoch nicht eindeutig als oppositionell bzw. regimekritisch einschätzen. So lässt sich beispielsweise Thiess’ Reich der Dämonen (1934) laut Ralf Schnell „ebenso gut als Apologie geschichtlich-gesellschaftlicher ‚Katastrophen‘ lesen“.[9]

Die Frage nach der Zugehörigkeit einer Person zur Inneren Emigration ist oft schwierig zu beantworten und häufig auch umstritten. Vor allem im Zuge der Entnazifizierung erhoben zahlreiche Schriftsteller oder Künstler den Anspruch, zur Inneren Emigration gehört zu haben; häufig beschafften sie sich Persilscheine, die dies zu bestätigen schienen. Meist ist eine genaue Beschäftigung mit der betreffenden Person und ihrem Werk notwendig, um dies beurteilen zu können.

Innere Emigration in der DDR

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Der Begriff wurde teils in Selbstbeschreibungen von Schriftstellern und Künstlern auf ihre Lage in der Literaturszene und Gesellschaft in der Deutschen Demokratischen Republik angewendet. Galionsfiguren der Inneren Emigration wurden entweder wie Wolf Biermann ausgewiesen oder ihrer Publikationsmöglichkeiten beraubt. Der Begriff wurde vielfach kritisiert, insofern die Analogie zuerst von westdeutschen Akteuren wie dem Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki gegen eine breite Ablehnung durchgesetzt wurde. Im August 1961 hatten westdeutsche Autoren wie Wolfdietrich Schnurre und Günter Grass in ihrem offenen Brief an die Mitglieder des Schriftstellerverbandes[15] jede Möglichkeit einer inneren Emigration verneint.

Die Gruppe der Inneren Emigration reicht von christlichen Autoren und Vertretern einer bürgerlichen Literatur, die den Sozialistischen Realismus ablehnten, bis zu jenen Erfolgsautoren, die sich von den staatlichen Vorgaben an die Literatur abwandten und gerade in der BRD dem Verdacht der Anpassung ausgesetzt waren. Zur ersteren Gruppe zählten neben dem Theologen Johannes Hamel auch die Dichter Peter Huchel und Johannes Bobrowski. Letzterer sah sich stets als Christ und Sozialist zugleich. In dem Roman Der Turm thematisiert der Schriftsteller Uwe Tellkamp das Überleben von Bildungsbürgern in der DDR durch „innere Emigration“.

2008 veröffentlichte der Soziologe Carsten Heinze eine forschende Vergleichsstudie, in der er sich mit dem Zusammenhang von autobiografischen Identitäts- und Geschichtskonstruktionen im zeitgeschichtlichen Kontext nach dem Fall der Mauer vor dem Hintergrund deutsch-deutscher bzw. deutsch-jüdischer Vergangenheitsbearbeitungen beschäftigte.

Er untersuchte,

  • wie im Kontext deutscher Vergangenheitsauseinandersetzungen historische Identitäten durch die argumentative Integration und Funktionalisierung von Geschichte gebildet werden und
  • auf welchen kulturellen, sozialen und politischen Hintergründen sie basieren.

Hierzu analysiert er exemplarisch die autobiografischen Lebenskonstruktionen von Marcel Reich-Ranicki, Wolf Jobst Siedler, Helmut Eschwege und Fritz Klein.

Andere Beispiele für „innere Emigration“ zur DDR-Zeit:

  • Zitat: „Herbert Wagner war während der DDR-Diktatur weitgehend in der ‚inneren Emigration‘. Im Umbruchprozess 1989/1990 ergriff er die Chance, den Staat, der nie ‚seiner‘ war, zunächst umzugestalten und dann abzuschaffen. Die Übernahme des Dresdner Oberbürgermeisteramts erwies sich als eine logische Konsequenz seines vorherigen Engagements.“[16]
  • Zitat: „Das Trauma des 1953 niedergeschlagenen Volksaufstandes wirkte nach, … Intellektuelle, die im Land blieben, gingen in die innere Emigration, ließen sich an die Leine legen oder wurden mit Privilegien korrumpiert.“[17]

Literatur

  • Friedrich Denk: Die Zensur der Nachgeborenen. Zur regimekritischen Literatur im Dritten Reich. Denk-Verlag, Weilheim 1995, ISBN 3-9800207-6-2.
  • Torben Fischer: Exildebatte. In: Torben Fischer, Matthias N. Lorenz (Hrsg.): Lexikon der „Vergangenheitsbewältigung“ in Deutschland. Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945. Transcript, Bielefeld 2007, ISBN 978-3-89942-773-8, S. 48–50.
  • J. F. G. Grosser: Die grosse Kontroverse: ein Briefwechsel um Deutschland. Nagel, Hamburg 1963.
  • Carsten Heinze: Identität und Geschichte in autobiographischen Lebenskonstruktionen. Jüdische und nicht-jüdische Vergangenheitsbearbeitungen in Ost- und Westdeutschland. VS, Wiesbaden 2009, ISBN 978-3-531-15841-9.
  • Frank-Lothar Kroll, Rüdiger von Voss (Hrsg.): Schriftsteller und Widerstand. Facetten und Probleme der Inneren Emigration. Wallstein Verlag, Göttingen 2012, ISBN 978-3-8353-1042-1 (Rezension auf Deutschlandradio Kultur, 15. Juli 2012).
  • Beate Marks-Hanßen: Innere Emigration? „Verfemte“ Künstlerinnen und Künstler in der Zeit des Nationalsozialismus. dissertation.de / Verlag im Internet, Berlin 2006, ISBN 3-86624-169-0 (zugl.: Univ. diss. Trier 2003).
  • Josefine Preißler: Der Topos „Innere Emigration“ in der Kunstgeschichte. Zur neuen Auseinandersetzung mit Künstlerbiografien. In: Christian Fuhrmeister, Monika Hauser-Mair, Felix Steffan (Hrsg.): Vermacht, verfallen, verdrängt – Kunst und Nationalsozialismus: die Sammlung der Städtischen Galerie Rosenheim in der Zeit des Nationalsozialismus und in den Nachkriegsjahren. Michael Imhof Verlage, Petersberg 2017, S. 47–54.
  • H. Rotermund, E. Rotermund: Zwischenreiche und Gegenwelten. Texte und Vorstudien zur ‚Verdeckten Schreibweise‘ im „Dritten Reich“. Wilhelm Fink, München 1999, ISBN 3-7705-3387-9 (Inhaltsverzeichnis).
  • Ralf Schnell: Literarische Innere Emigration. In: Dichtung in finsteren Zeiten. Deutsche Literatur und Faschismus. Rororo, Hamburg 1998, S. 120–160.
  • Nancy Thuleen: Criticism, Complaint, and Controversy: Thomas Mann and the Proponents of Inner Emigration (online).
  • Gero von Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur (= Kröners Taschenausgabe. Band 231). 8., verbesserte und erweiterte Auflage. Kröner, Stuttgart 2001, ISBN 3-520-23108-5.
  • Carl Zuckmayer: Geheimreport. Hrsg. Gunther Nickel und Johanna Schrön. Reihe: Zuckmayer-Schriften. Wallstein, Göttingen 2021, ISBN 978-3-8353-3857-9 (Charakterporträts von Schriftstellern, Publizisten, Verlegern, Schauspielern, Regisseuren und Musikern, die während der NS-Zeit in Deutschland geblieben waren).

Einzelnachweise

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