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deutscher Jurist Aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Hermann Kantorowicz (auch Hermann U.[1] Kantorowicz, Pseudonym Gnaeus Flavius; * 18. November 1877 in Posen; † 12. Februar 1940 in Cambridge) war ein deutscher Rechtswissenschaftler.
Kantorowicz wurde als Sohn von Wilhelm und Rosa Kantorowicz, geborene Gieldzinska, in der Hauptstadt der preußischen Provinz Posen im Königreich Preußen geboren. 1884 zog er mit seinen Eltern und seinen Geschwistern Alfred, Erich und Else nach Berlin.[2] Kantorowicz studierte in Berlin und Genf, promovierte 1904 in Heidelberg und habilitierte sich 1907 an der Universität Freiburg im Breisgau.[3] Dort lehrte er zunächst als Privatdozent, ab 1913 als nichtetatmäßiger und ab 1923 als etatmäßiger außerordentlicher Professor bis 1929 (mit einer Unterbrechung 1927, als er als Visiting Professor an der Columbia University lehrte). Danach war er als Nachfolger von Gustav Radbruch ordentlicher Professor an der Universität Kiel (1929–1933). Die Machtergreifung der Nationalsozialisten erlebte Kantorowicz in Florenz. Nur gut zwei Wochen, nachdem das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums am 7. April 1933 in Kraft getreten war, wurde er bereits in den einstweiligen Ruhestand versetzt. Im September 1933 folgte die endgültige Entlassung. Das gleiche Schicksal ereilte seinen Bruder, den berühmten Zahnarzt Alfred Kantorowicz. An Hermann Kantorowiczs Stelle trat Georg Dahm.[4] Kantorowicz emigrierte in die Vereinigten Staaten von Amerika, wo er am City College in New York (1933–1934) lehrte, bevor er nach England ging. Dort unterrichtete er an der London School of Economics und am All Souls College in Oxford sowie an der Universität Cambridge (1934–1937). Von 1937 bis zu seinem Tod 1940 war er Assistant Director of Research in Law in Cambridge.
Kantorowicz heiratete am 23. April 1904 Johanna Dorothea Rosenstock, Tochter des Berliner Bankiers Theodor Rosenstock. Aus der Ehe gingen die Kinder hervor: Lorenzo, Otto Paul Theodor, Ludwig Hans und Hildegard Dorothea. Ab dem 26. Juli 1923 war er in zweiter Ehe mit Hildegard Anna Maria Kalin, einer Volks- und Mittelschullehrerin, verheiratet. Mit ihr hatte er zwei Söhne, Thomas Albert und Frank Wilhelm Eduard.[2]
Hermann Kantorowicz trat aus der jüdischen Religionsgemeinschaft aus.
Kantorowicz war einer der maßgeblichen Vertreter der sogenannten Freirechtsschule, einer einflussreichen Denkrichtung innerhalb der deutschen Rechtswissenschaft um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Dem Rechtspositivismus im Kaiserreich, der in der sogenannten Begriffsjurisprudenz seinen Ausdruck fand, sollte eine Rechtstheorie entgegengestellt werden, die der zunehmenden Distanz von staatlich-juristischer und gesellschaftlicher Wirklichkeit gerecht werden konnte. Ziel war, fortschrittliche Gedanken in einem reaktionären Rechtssystem durch die freie Entscheidung von Richtern durchzusetzen, deren Bindung an Gesetzestexte verringert werden sollte. Kantorowicz und die Freirechtslehre gingen davon aus, dass Recht nicht nur in Gesetzen enthalten ist. Das nicht in den Gesetzbüchern enthaltene – aber dennoch lebende – Recht nennt Kantorowicz das freie Recht. „Aus freiem Recht endlich muß das Gesetz in sich geschlossen werden, müssen seine Lücken ausgefüllt werden.“ Das Füllen der Lücken könne nur durch Rechtsnormen erfolgen, weil die Entscheidung eines Richters eine rechtliche sein muss. Diese Normen werden vom Richter geschaffen, der nicht nur Rechtserkenntnis-, sondern auch Rechtsschaffungsaufgaben habe. Demzufolge sei dem Richter gegenüber den Gesetzesbestimmungen eine größtmögliche Freiheit einzuräumen. Das freie richterliche Ermessen sei das Grundprinzip der Rechtsanwendung.
Wer die Freirechtslehre begründet hat, ist bis heute Gegenstand von Diskussionen. Unter anderen hat Eugen Ehrlich diese Leistung für sich in Anspruch genommen. Er behauptete, die entsprechenden Gedanken bereits 1888 formuliert zu haben. Unter dem Pseudonym Gnaeus Flavius schrieb Kantorowicz ein Pamphlet für die Freirechtslehre, dessen starke Formulierungen diesen Traktat tatsächlich zu einer Methodenkampfschrift machen: „Möge diese Schrift neue Streiter werben für den Befreiungskampf der Rechtswissenschaft, für den Sturm auf die letzte Bastion der Scholastik.“ Ganz abgesehen von aller Begründungsdebatte wird dieser Text heute vielfach als zentraler Ausdruck des Denkens der Freirechtslehre angesehen.[5]
Von Kantorowicz und der Freirechtslehre gingen starke Impulse aus, die nicht nur die Rechtswissenschaften selbst, sondern auch andere Gebiete und Disziplinen wie etwa die Rechtssoziologie beeinflussten. Trotzdem ist das Denken der Freirechtslehre heute historisch zu betrachten. Das vor allem wegen des dort unternommenen Versuchs, die Rechtswissenschaft direkt unter die übrigen Kulturwissenschaften einzureihen. Kantorowicz sagt, „alles Sollende ist auch ein Seiendes“, daher fällt schon von vorneherein der Versuch einer Abtrennung der Rechtswissenschaft von den übrigen Kulturwissenschaften über die übliche Unterscheidung von Sein und Sollen in sich zusammen. Damit löst sich tatsächlich das Recht im Sozialen auf. Diese Relativierung des Rechts wurde von vielen Juristen und Rechtstheoretikern als Destabilisierung und Auflösungstendenz angesehen und aus rechtsdogmatischen Gründen nicht mit vollzogen.
Für heftige Diskussionen sorgte Kantorowicz, als Einzelheiten seines Gutachten für den parlamentarischen Untersuchungsausschuss über die Frage der Schuld Deutschlands an der Auslösung des Ersten Weltkrieges bekannt wurden.[6] Entgegen der vorherrschenden Meinung in Deutschland gelangte er 1923 zum Schluss, dass Deutschlands Verantwortung am Kriegsausbruch von hohem Gewicht sei. Als einen Beleg nannte Kantorowicz das amtliche Weißbuch vom 3. August 1914, worin rund 75 Prozent der darin vorgelegten Dokumente verfälscht seien, die die Beteiligung Deutschlands am Entstehen des Ersten Weltkriegs bestreiten sollten.[7] Als Kantorowicz kurze Zeit danach 1927 zur Wahl als ordentlicher Professor an der Universität Kiel vorgeschlagen wurde, erhob der damalige Außenminister Gustav Stresemann (DVP) in einem Brief an den Kultusminister Becker (SPD) seine Bedenken dagegen. Stresemann sah Deutschland als unschuldig am Entstehen des Ersten Weltkrieges und wollte nach Beratung durch den ehemaligen Diplomaten und Politiker Johannes Kriege (DVP) verhindern, dass die bis „zum Masochismus gehende“, auf das Handeln Deutschlands bezogene selbstkritische Sichtweise Kantorowicz’ durch die Verleihung eines Ordinariats in Kiel eine Bestärkung erfahre. In einem Antwortbrief an Stresemann zitierte Becker unter anderem eine Äußerung des Rechtspolitikers Gustav Radbruch, dass in dem Gutachten nichts anderes stehe, als was die Auffassung der ganzen Sozialdemokratischen Partei sei. Die sozialdemokratische Regierung Preußens berief Kantorowicz auf den Kieler Lehrstuhl.[8] Das Gutachten blieb auf Betreiben Stresemanns und des Geschäftsführers des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses zur Kriegsschuldfrage Eugen Fischer-Baling unveröffentlicht. Das Märchen von der Unschuld Deutschlands am Entstehen des Ersten Weltkrieges und nach Stresemannscher Interpretation von „dem Weltbetrug“ des Versailler Vertrags konnte von den nationalistischen Gruppierungen ungestört weiterverbreitet werden.[9] Erst 1967 veröffentlichte der junge Historiker Imanuel Geiss das in Vergessenheit geratene Gutachten und stützte damit den Historiker Fritz Fischer in seinem Streit mit der etablierten Historikerzunft der Bundesrepublik Deutschland, die noch in den 1960er Jahren abstritt, dass Deutschland eine Mitschuld an der Entstehung des Ersten Weltkrieges gehabt habe.
Eine ausführliche Bibliographie ist zu finden in: Karlheinz Muscheler: Relativismus und Freirecht. C.F. Müller Juristischer Verlag, Heidelberg 1984.
Auf Initiative seiner Frau Hilda Kantorowicz (1892–1974) wurden posthum zwei Sammlungen von Aufsätzen publiziert. Die meisten der darin enthaltenen Texte sind in der Liste oben enthalten.
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