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Konzepte und Kenngrößen zur kollektiven immunologischen Wirkung von Infektionen und Impfungen Aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Herdenschutz[1][2], auch Herdeneffekt[3] genannt, bezeichnet in der Epidemiologie im engeren Sinn den Effekt, dass ein bestimmter Anteil von Individuen innerhalb einer Population, die – zum Beispiel infolge einer durchgemachten Infektion oder durch Impfung – immun sind, auch nichtimmunen Individuen einen relativen Schutz vor einer ansteckenden Krankheit bietet. Der Anteil der Individuen mit Immunität in einer bestimmten Population (der „Herde“) wird auch als Herdenimmunität (seltener auch Bevölkerungsimmunität) bezeichnet. Der Herdenschutz ist demnach das Ergebnis einer hohen Herdenimmunität in der Population. Neben der Herdenimmunität wird der Herdenschutz auch durch den Infektionsdruck der entsprechenden Infektion bestimmt. Teilweise werden die Begriffe Herdenimmunität, Herdeneffekt und Herdenschutz auch synonym verwendet.
Herdenschutz bezeichnet im engeren Sinn den Effekt, dass ein bestimmter Anteil immuner Individuen innerhalb einer Population (entstanden durch Impfung oder durchgemachte Infektionen) auch nichtimmunen Individuen einen relativen Schutz vor einer ansteckenden Krankheit bietet.[4] Mit steigendem Anteil der Immunisierten (Individuen mit Immunität) in der Bevölkerung sinkt die Infektionswahrscheinlichkeit, weil Infektionsketten unterbrochen werden. Dieser Anteil der Immunisierten in einer bestimmten Population (der „Herde“) wird auch als Herdenimmunität bezeichnet.[5] Die Herdenimmunität beschreibt daher eine Verteilung von Immunität (pattern of immunity), die eine Population vor neuen Infektionen schützt.[6][7]
Der Herdenschutz ist demnach das Ergebnis einer hohen Herdenimmunität in der Population. Neben der Herdenimmunität wird der Herdenschutz auch durch den Infektionsdruck der entsprechenden Infektion bestimmt.[5] Teilweise werden die Begriffe Herdenimmunität, Herdeneffekt und Herdenschutz auch synonym verwendet.
Ein Verständnis der immunologischen Phänomene bei umfassender Durchimpfung von Populationen hilft, das Design von Impfkampagnen zu verbessern, sodass übertragbare Infektionskrankheiten nicht nur theoretisch, sondern auch in der Realität besser kontrolliert, begrenzt oder ausgerottet werden können.[5] Nachstehend wird der Definition von Herdenimmunität als „Anteil der Individuen mit Immunität“ und Herdeneffekt bzw. Herdenschutz als indirektem Schutz gefolgt.[5]
Kritiker weisen darauf hin, dass die Bezeichnung Herdenimmunität von verschiedenen Autoren verwendet wurde, um unterschiedliche Konzepte zu beschreiben. Herdenimmunität sei zum einen als der „Anteil der Individuen mit Immunität in einer Bevölkerung“ und zum anderen als „Effekt, dass ein gewisser Anteil immuner Individuen innerhalb einer Population auch nichtimmunen Individuen einen relativen Schutz bietet“ definiert worden. Die Verwendung des Ausdrucks in der zweiten Bedeutung sei laut Kritikern irreführend: Zwar sei der Begriff Immunität früher für einen allgemeinen Schutzzustand verwendet worden, beschreibe heute aber einen Zustand, in dem das Immunsystem des Körpers spezifisch auf definierte Immunogene reagiert hat. Somit sei Immunität ein Attribut des Individuums und nicht einer Gruppe. Aus diesem Grund solle die Bezeichnung Herdenimmunität für „den Anteil der Individuen mit Immunität in einer Bevölkerung“ verwendet werden und die Bezeichnung Herdeneffekt oder Herdenschutz für den „Effekt, dass ein gewisser Anteil immuner Individuen innerhalb einer Population auch nichtimmunen Individuen einen relativen Schutz bietet“.[5]
Nach dieser Definition führt eine gewisse Herdenimmunität in der Bevölkerung somit durch Unterbrechen der Infektkette zu Herdenschutz. Auch das Robert Koch-Institut spricht an einigen Stellen von Herdenschutz statt Herdenimmunität.[8] Da das Wort Herde teilweise negativ konnotiert ist, wird zunehmend auch die Bezeichnung Gemeinschaftsschutz[9] (englisch community protection[10]) statt Herdenschutz verwendet.
Das Phänomen des Herdenschutzes ist komplex. Die einfache („krude“) Schwellen-Theorie, also das Basis-Modell zur Wechselwirkung von Transmission und Immunitätsschwelle, ist „naiv“, denn sie basiert auf etlichen Annahmen, die in der Realität nicht gegeben sind, und auf Faktoren, die bisher nicht ausreichend verstanden oder quantifizierbar oder noch unbekannt sind.[6][10][11][12]
Zu den Größen mit Einfluss auf die tatsächlich erzielte Wirksamkeit (efficiency) von Impfungen gehören:
Der zur Berücksichtigung dieser Einflussgrößen in das mathematische Modell eingeführte Effizienzfaktor E beruht seinerseits auf Annahmen dazu, wie sich vorgenannte Einflussgrößen im Einzelnen und in gegenseitiger Wechselwirkung quantitativ auswirken.
In der Regel führt Faktor E zu einer Erhöhung der in der Realität notwendigen Durchimpfungsrate im Vergleich zu den idealisierten Annahmen des mathematischen Modells. Sofern allerdings Teilpopulationen bekannt sind, die ein besonders hohes Infektrisiko haben, kann deren gezielte Durchimpfung die insgesamt nötige Impfquote (overall vaccine coverage) absenken, also zu einer durchschnittlich höheren tatsächlichen Wirksamkeit der Impfkampagne führen.
Der Herdeneffekt wirkt ähnlich wie eine Brandschneise bei einem Feuer, indem die Infektionskette eines Krankheitserregers dank der Immunität unterbrochen oder mindestens verlangsamt wird. In der Folge kann sich die Krankheit nicht mehr epidemisch ausbreiten, insofern die Krankheitserreger nur zwischen Menschen übertragen werden (Anthroponose). Oberhalb eines bestimmten Schwellenwerts der Immunität in einer Bevölkerung verringert sich die Weitergabe des Erregers immer mehr, schließlich reißt die Infektkette ab, es kommt in dieser Population nicht mehr zu Infektionen. Dieser Schwellenwert ist im Wesentlichen abhängig von der Basisreproduktionszahl des jeweiligen Krankheitserregers. Selbst wenn der Krankheitserreger Rückzugsräume in anderen Populationen hat, kann er nicht mehr von diesen aus Populationen mit ausreichender Herdenimmunität infizieren.
Krankheit | Übertragungsweg | R0 | Mindestanteil Immunisierter |
---|---|---|---|
Masern | Tröpfcheninfektion | 12–18 | 83–94 % |
Mumps | Tröpfcheninfektion | 4–7 | 75–86 % |
Polio | fäkal-orale Infektion | 5–7 | 80–86 % |
Röteln | Tröpfcheninfektion | 5–7 | 80–86 % |
Pocken | Tröpfcheninfektion | 6–7 | 83–86 % |
Die Basisreproduktionszahl R0 gibt an, wie viele weitere Personen eine infizierte Person durchschnittlich ansteckt, falls die sie umgebende Population oder Teilpopulation weder durch Impfung noch durch frühere Infektion geschützt ist. |
Ausgehend von der Basisreproduktionszahl ist die unter idealen Umständen für einen Herdeneffekt mindestens erforderliche Impfabdeckung gegeben durch:[14]
und in Prozentangaben:
Der Wert wird auch als Herdenimmunitätsschwelle (englisch herd immunity threshold, kurz HIT) bezeichnet.
Die in der Tabelle aufgeführte Herdenimmunitätsschwelle (HIT) ist nicht identisch mit der mindestens notwendigen Durchimpfungsrate:
Abweichend vom Basis-Modell hängt das tatsächlich erreichbare Ausmaß von Herdenimmunität und Herdeneffekt von vorgenannten Einflussgrößen ab. Daher sind in der Realität meist höhere Durchimpfungsraten für einen Herdeneffekt als unter idealen Bedingungen erforderlich. Um dies zu berücksichtigen, wird die Gleichung um die Größe E, den Faktor der Wirksamkeit ( für Effizienz), erweitert:
Somit ist die mindestens notwendige Durchimpfungsrate meist höher als die in der Tabelle aufgeführte mindestens notwendige Herdenimmunität (HIT).[6] Sowohl eine Zunahme in der Durchimpfungsrate als auch eine Zunahme in der Wirksamkeit der Impfung erleichtern das Erreichen eines Herdeneffekts. Der günstige Fall, dass die im Durchschnitt (für eine Gesamtpopulation) nötige mindestens notwendige Durchimpfungsrate kleiner ist als die in der Tabelle (für die Gesamtpopulation) aufgeführte mindestens notwendige Herdenimmunität, tritt selten ein, beispielsweise bei gezielter Impfung von Teilpopulationen mit besonders hohem Risiko der Infektion und/oder Transmission. Herdenschutz ist kein statisches Phänomen. So sind beispielsweise bei Impfungen mit Abnahme (engl. „waning“) der Immunität im Lauf der Zeit Auffrischungsimpfungen erforderlich, um einen Herdeneffekt aufrechtzuerhalten.[6][15]
Eine mittels durchgemachter Infektion erworbener Herdenschutz spielte in der Ära, bevor es Impfungen gab, eine bedeutende Rolle. Sie konnte große Seuchen zurückdrängen, bis die Krankheitserreger größtenteils eliminiert waren. Wenn die immune Bevölkerung dann aus anderen Gründen verstarb, breiteten sich die Seuchen erneut zu einer Epidemie aus. Oder aber es entwickelten sich die Kinderkrankheiten, gegen die die Erwachsenen Immunität aufwiesen, die sie entweder durch frühere Erkrankung oder unbemerkt nach einem symptomlosen Verlauf einer Infektion (klinisch inapparente Infektion → stille Feiung) natürlich erworben hatten, wie typisch bei Polio. Man nennt diesen Zustand endemischen Status, welcher theoretisch durch die Formel (S = Suszeptibilität/Empfänglichkeit) beschrieben wird. Eins bedeutet: Nur ein Mensch steckt einen anderen an.
Wenn eine Seuche nach der Erkrankung Genesene hinterlässt, die lebenslang immun sind, dann ist ein Impfstoff fast immer möglich (“Natural infection is the mother of all vaccines”, Antony Fauci). Solche Krankheiten sind die Pocken und die Kinderlähmung (Poliomyelitis); jedoch gehören AIDS, Malaria, Tuberkulose und Hepatitis C nicht dazu. Bei letzteren gibt es allenfalls eine Teilimmunität, oder nur ein Teil der Erkrankten kann, wie bei der Hepatitis C (30 %), das Virus eliminieren, oder es gibt wegen häufiger Mutationen (beim AIDS-Erreger HIV fast täglich) praktisch keine Immunität. Bei der Influenza ereignen sich Mutationen etwa jährlich; in dieser Zeit sind Impfstoffanpassungen möglich.[16]
Der Herdenschutz selbst wirkt als Selektionsdruck auf einige Viren und beeinflusst die virale Evolution, indem sie die Produktion neuer Stämme, in diesem Fall als „Escape-Mutanten“ bezeichnet, fördert. Sie sind so der Lage, einem Herdenschutz zu „entkommen“ und sich leichter zu verbreiten.[17][18]
Auf molekularer Ebene entgehen Viren der Immunität durch Antigendrift, d. h. es entstehen Mutationen in dem Teil des viralen Genoms, der für das Oberflächenantigen des Virus kodiert, typischerweise einem Protein im Viruskapsid, was zu einer Veränderung des viralen Epitops führt.[19][20] Alternativ kann auch ein Reassortment separater Segmente des viralen Genoms oder ein Antigenshift, der häufiger auftritt, wenn mehrere Stämme im Umlauf sind, neue Serotypen hervorbringen.
Wenn eines dieser Phänomene auftritt, erkennen die T-Zellen das Virus nicht mehr und die Menschen sind nicht immun gegen den dominanten zirkulierenden Stamm.[20][21] Sowohl bei der Influenza als auch beim Norovirus, einer häufigen Ursache für Gastroenteritis, induzieren Ausbrüche eine vorübergehende Immunität, bis ein neuer dominanter Stamm auftaucht, der nachfolgende Wellen von Ausbrüchen verursacht.[19][21]
Da diese mögliche Entwicklung eine Herausforderung für Impfstrategien darstellt, werden derzeit (2021) „universelle“ Impfstoffe entwickelt, die einen Schutz über einen bestimmten Serotyp hinaus bieten.
Besondere Bedeutung besitzt Herdenschutz für Personen, die nicht mit ausreichender Wirksamkeit geimpft werden können, beispielsweise Personen mit Immunsuppression (Erkrankung des Immunsystems wie HIV-Infektion, Lymphom, Knochenmarkkrebs oder Leukämie; Chemotherapie oder Strahlentherapie; Einnahme von Immunsuppressiva nach Organtransplantation).[22][23][24][25] Daneben können Kontraindikationen zu einer mangelnden Immunität beitragen.[22][22][25][26] Die fehlende Immunität in diesen Personengruppen kann teilweise auch zu schwereren Krankheitsverläufen führen, die durch einen Herdeneffekt vermieden werden können.[22][25][26]
Beispielsweise können bei Neugeborenen Nebenwirkungen (vor allem von Impfstoffen mit lebenden Erregern) oder eine Unwirksamkeit durch passive Immunität von den Antikörpern der Mutter Gründe gegen die Verabreichung einzelner Impfstoffe sein.[13][22][27][28] Schwangere, die noch nicht vor Röteln durch Infektion oder Impfung geschützt sind, werden nicht mit den derzeit üblichen Kombinations-Impfstoffen gegen Röteln geimpft, weil diese lebende Erreger enthalten, deren Unbedenklichkeit für die Ungeborenen nicht gesichert ist. Dem Schutz solcher Schwangeren und ihrer Ungeborenen dient Herdenschutz ihrer Kontaktpersonen.
Hohe Durchimpfungsraten in einer Altersgruppe können auch Personen in anderen Altersgruppen vor Erkrankung an diesem Krankheitserreger schützen,[29] beispielsweise ungeimpfte Säuglinge und Kleinkinder[29][25][30][31][32] oder ältere Menschen.[29][33]
Hochrisikoverhalten beim Geschlechtsverkehr führt zu einer hohen Übertragungsrate (englisch transmission rate) der betreffenden Erreger, was die Eradikation von Geschlechtskrankheiten erschwert.[34][35] Bei Geschlechtskrankheiten kann sich der Herdeneffekt von einem Geschlecht auf das andere Geschlecht erstrecken.[34][36][35][37]
Im günstigsten Fall kann eine Krankheit so durch ausreichend hohe Impfquoten in einer Bevölkerung sogar ausgerottet (Eradikation) werden, d. h., der Krankheitserreger kommt endemisch nicht mehr vor. Die Eradikation von Infektionskrankheiten ist ein Ziel der Gesundheitspolitik.[29] Bei den Pocken wurde dies durch ein konsequentes, weltweites Impf- und Bekämpfungsprogramm erreicht, so dass 1980 die Welt von der WHO für pockenfrei erklärt werden konnte.[39] Gleiches wurde global inzwischen für Polio nahezu erreicht. Bei nachlassenden Impfbemühungen in den Nachbarländern kommt es zwar immer wieder zu Ausbrüchen der Poliomyelitis durch Re-Importe, so 2006 in Namibia.[40] Aber 2008 galten nur noch wenige Länder als endemisch für Polioviren (Nigeria, Indien, Pakistan, Afghanistan).[41] Die wegen Nebenwirkung der oralen Polioimpfung (OPV) mit abgeschwächten Erregern inzwischen bevorzugte Nadelimpfung mit inaktivierten Erregern (IPV) hat ihrerseits den Nachteil, dass sie keine sterile Immunität erzeugt, wie 2013 der Ausbruch einer Polio-Epidemie in Israel zeigte.[42]
Die globale Eliminierung der Masern, ebenfalls von der WHO als Ziel vorgegeben, konnte jedoch bislang nur auf den Kontinenten Amerika und Australien sowie in Skandinavien erreicht werden, da im Rest der Welt die Durchimpfungsraten zu gering sind. In der Folge brechen immer wieder lokale Masernepidemien aus, auch beispielsweise in Deutschland die regional begrenzten Masernepidemien in Hessen, Bayern, Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen inklusive schwerer Komplikationen und Todesfälle in den Jahren 2005/2006.[43]
In der Regel bewirken hohe Durchimpfungsraten eine Herdenimmunität und einen Herdeneffekt. So sind weltweit große Populationen vor gefährlichen übertragbaren Infektionskrankheiten geschützt worden. Allerdings gilt auch für Impfstoffe die Erkenntnis des Pharmakologen Gustav Kuschinsky: „Ein Arzneimittel, von dem behauptet wird, daß es keine Nebenwirkungen habe, steht im dringenden Verdacht, auch keine Hauptwirkung zu besitzen.“[44] Nebenwirkungen von Impfungen sollen gemäß WHO gezielt erfasst und systematisch klassifiziert werden.[45] Zusätzlich zu individuellen Nebenwirkungen bei manchen Geimpften (beispielsweise Schmerzen an der Einstichstelle, Allergie gegen Bestandteile des Impfstoffes) sind auch Nebenwirkungen epidemischer Art bekannt. Das Robert Koch-Institut bezeichnet sie als „unerwünschte negative Effekte einer Impfstrategie auf Bevölkerungsebene“ und hat ihre Aufklärung zu einer seiner Aufgaben erklärt.[46] Zu den negativen epidemischen Effekten von Impfungen auf Bevölkerungsebene gehören beispielsweise:[46][10]
Durch Impfungen kann es zu einer Änderung der relativen und/oder absoluten Häufigkeit der Serotypen des Krankheitserregers kommen (engl. vaccine-induced pathogen strain replacement).[47] Soweit die Zunahme Serotypen betrifft, die nicht vom Impfstoff erfasst werden, kann der Effekt der Impfung geringer sein als aufgrund der Vakzine-Effektivität gegen die im Impfstoff enthaltenen Serotypen zu erwarten war.[48] Ein Serotypen-Replacement erfordert den Austausch oder eine Erweiterung der Antigene im Impfstoff. Ein bedeutendes Beispiel hierfür ist der Pneumokokkenimpfstoff.[48][49]
Durch den Herdeneffekt kann es zur Häufung von Personen in Teilpopulationen kommen, die selbst weder durch Infektion noch Impfung gegen die Erreger übertragbarer Infektionskrankheiten immun sind. Falls in diese Gruppe beispielsweise durch Reisen in Endemiegebiete oder Immigration aus solchen Gebieten Keimüberträger gelangen und der Herdeneffekt für diese Gruppe unzureichend ist, riskieren sie eine Erkrankung, die bisher als Kinderkrankheit üblich war.[6][50] Solche Altersverschiebungen sind beispielsweise für Masern dokumentiert. In höherem Alter werden Masern schwerer erkannt, sodass beispielsweise Masernpneumonien verspätet angemessen behandelt werden. Außerdem treten Masern bei Neugeborenen in der Zeit bis zur ersten Impfung (empfohlen zwischen dem vollendeten 11. und 14. Lebensmonat) etwas häufiger dann auf, wenn ihre Mütter gegen diese Erreger geimpft wurden, als wenn die Mütter die Masern als Infektion durchgemacht hatten, weil die über die Plazenta bewirkte Leihimmunität nach Impfung schneller abklingt als nach Infektion.[51]
Bei Mumps verläuft der Großteil der Infektionen bei Kindern ohne oder mit nur geringen Symptomen. In den letzten Jahren sind aber in Deutschland wie auch in vielen anderen europäischen Ländern vermehrt Mumps-Ausbrüche unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen aufgetreten. In diesem höheren Alter wird die Symptomatik deutlicher, bei männlichen Erkrankten umfasst sie das Risiko der Sterilität durch Mumps-Orchitis.[52][50]
Auch bei Röteln kommt es mit zunehmendem Lebensalter der erkrankten Person häufiger zu Komplikationen.[53] Auch Windpocken und Hepatitis A treten dank regelkonformer Impfungen seltener im Kindesalter auf. Lässt der Herdeneffekt aber nach, werden nicht Geimpfte oft erst in höherem Alter infiziert. Dann kommt es durchschnittlich zu häufigeren und ernsthafteren Komplikationen als bei Kindern.[50]
Nach der Impfung gegen Keuchhusten treten zwar über die Plazenta Antikörper auf die Neugeborenen über. Die Pertussis-Antikörper allerdings schützen einerseits die Neugeborenen in den ersten beiden Monaten vor dann lebensgefährlichen Erkrankung, sie behindern andererseits (anders als gelegentlich Leihantikörper gegen Röteln) nicht den Aufbau eigener Antikörper als Reaktion auf die regelkonform ab dem Ende des zweiten Monats beginnenden Neugeborenen-Impfungen.[54][55]
Das wichtigste Beispiel für diese Art von negativen Effekten von Bevölkerungsimpfungen ist die Rückmutation des Erregers im oralen Polio-Impfstoff (OPV) in eine wieder humanpathogene Variante, die dem Wild-Virus ähnelt und Erkrankungen Dritter durch dieses Virus (engl. circulating vaccine-derived poliovirus, cVDPV) hervorrufen kann. Die WHO empfiehlt daher, die „Schluckimpfung“ mit OPV schrittweise überlappend auf den inaktivierten Polioimpfstoff (IPV) umzustellen.
Durch die DTP-Impfungen wird mittlerweile die Mehrzahl der gemeldeten Diphtheriefälle in Westeuropa durch Corynebakterium ulcerans verursacht (Hautdiphtherie) und nicht mehr durch den bisher klassischen Diphtherie-Erreger C. diphtheriae (Rachendiphtherie).[56][57] C. ulcerans ist in der Lage, das Diphtherie-Toxin zu bilden und damit die systemischen Symptome der Erkrankung auszulösen. Zwar wirkt der übliche Diphtherieimpfstoff auch gegen C. ulcerans.[58] Aber C. ulcerans hat anders als C. diphtheriae sein Reservoir in Tieren (auch Haustieren), was seine Eradikation erschwert.
Eine Gefahr für das Erreichen von Herdenschutz stellt insbesondere die Impfmüdigkeit dar. Impfkampagnen, die die notwendige Herdenimmunität nicht erreichen, können unter Umständen die Häufigkeit von Krankheitskomplikationen bei Nicht-Geimpften erhöhen. Wird ein zu geringer Anteil der Bevölkerung geimpft, senkt dies „nur“ die Wahrscheinlichkeit einer Ansteckung bei den Nicht-Geimpften, statt eine Infektion über Herdenschutz zu verhindern. Dies bedeutet, dass die Ansteckung, falls sie dann stattfindet, oft nicht mehr im Kindesalter erfolgt, was bei einigen Krankheiten, wie etwa Mumps, Röteln, Polio, Windpocken, gefährlicher ist. Beispielsweise wurde in Griechenland in den frühen 1990er Jahren von einer Zunahme der Fälle von Rötelnembryofetopathie berichtet, nachdem in den gesamten 1980er Jahren die Durchimpfungsrate unter 50 % lag.[62] Aus diesem Grund sollte jede Impfkampagne nicht nur einen Teilschutz der Bevölkerung anstreben, sondern auch Herdenschutz sicherstellen. Auch ist es wichtig, dass die Verantwortlichen, welche Impfkampagnen planen, mathematische und epidemiologische Modelle der Medizin verstehen.[63] In einer US-amerikanischen Studie erhöhte eine Aufklärung über den Herdeneffekt die Bereitschaft, sich gegen Influenza impfen zu lassen.[64] Bei Polio wird die Eradikation durch politisch bedingte Unruhen und Misstrauen gegenüber der modernen Medizin verzögert.[6][65] Eine Impfpflicht könnte die Eradikation beschleunigen.[66][67][68][69]
Die COVID-19-Pandemie nahm Ende 2019 in Wuhan durch ein bis dahin unbekanntes Virus SARS-CoV-2 ihren Ursprung. Die WHO erklärte die weltweite Verbreitung des Virus am 11. März 2020 zur „Gesundheitlichen Notlage internationaler Tragweite“. Das Virus wurde als hoch infektiös beschrieben. Da alle bisher nicht mit dem Virus in Kontakt gekommenen Menschen grundsätzlich anfällig für das Virus sind, entstanden so Bedingungen für eine schnelle und endemische Ausbreitung in der Gesellschaft. Infolgedessen verhängten viele Länder einen Lockdown, um die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen und eine Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern.[70]
Herdenschutz als Folge von Infektion mit SARS-CoV-2 oder durch eine Impfung gegen diesen Erreger wurde erforscht, diskutiert und angestrebt.[71][72][73]
Viele Wissenschaftler beschrieben eine Herdenimmunität mit Hilfe einer Impfung als einzigen realistischen und ethisch verantwortbaren Weg, um die Pandemie zu beenden.[74][70] Ende Juli 2021 stellte das Robert Koch-Institut dazu fest: „Die Vorstellung des Erreichens einer ‚Herdenimmunität‘ im Sinne einer Elimination oder sogar Eradikation des Virus ist jedoch nicht realistisch.“[75]
Daneben gab es auch eine Debatte um einen durch natürliche Infektionen erworbenen Herdenschutz.[76]
Eine auf natürlichem Herdenschutz basierende Strategie zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie (wie z. B. in der Great Barington Declaration gefordert) wurde von vielen Wissenschaftlern abgelehnt, da sie zu hohe Risiken berge und viele vermeidbare Todesfälle verursache. Ihre Bedenken formulierten sie im Oktober 2020 im John Snow Memorandum. Ein Schutz durch Immunität könne auf ethisch vertretbare Weise nur durch einen Impfstoff erreicht werden, und bis dieser zur Verfügung steht, müssten Maßnahmen zur Eindämmung des Virus aufrechterhalten werden.[74] Auch die WHO sieht eine auf natürlicher Immunität basierende Strategie als wissenschaftlich problematisch und unethisch an.[77]
Der Epidemiologe Kin On Kwok betont darüber hinaus die Abhängigkeit der Schwelle, bei der ein Herdenschutz erreicht wird, von den getroffenen Interventionsmaßnahmen gegen das Virus. Werde der R0-Wert durch Interventionsmaßnahmen gesenkt, könnte sich Herdenschutz bereits bei niedrigen Durchseuchungsraten ausbilden. Der Herdenschutz verschwinde jedoch, sobald die Maßnahmen gelockert werden und sich die Übertragungsrate wieder erhöht.[74]
Im British Medical Journal wiesen Gesundheitsforscher im Dezember 2020 auf eine mögliche Unzuverlässigkeit der serologischen Antikörpernachweise hin und warnten davor, individuelle und politische Entscheidungen basierend auf einer möglicherweise inakkurat ermittelten Durchseuchungsrate zu treffen. Zudem wiesen sie auf die vielen komplexen Einflussgrößen hin, wodurch nicht genau bestimmt werden könne, ab wann Herdenschutz erreicht sei.[78]
Die Regierung des Vereinigten Königreichs unter Boris Johnson sprach sich anfänglich für eine Strategie des Herdenschutzes durch natürliche Durchseuchung aus. Nach Warnungen der Wissenschaft ließ sie aber davon ab.[79][80] Schweden wurde in Medienberichten ebenfalls zugeschrieben, eine solche Strategie des Herdenschutzes zu verfolgen; jedoch wurde dies in den Medien missverständlich dargestellt. Die schwedische Regierung verfolgte ähnlich wie andere Länder Strategien zur Eindämmung des Virus, die Maßnahmen basierten jedoch mehr auf Freiwilligkeit.[74]
Vermuteter natürlicher Herdenschutz in einzelnen Ländern
Die brasilianische Stadt Manaus wurde von der COVID-19-Pandemie schwer getroffen und wies eine hohe Übersterblichkeitsrate auf. Studien aus Brasilien vom September 2020 behaupteten, dass in Manaus über 66 % der Bevölkerung bereits mit dem Virus infiziert gewesen seien und es daher zum Herdenschutz gekommen sei, da die Fallzahlen sich im August entspannten. Einen später im September 2020 stattfindenden Anstieg der Fallzahlen hat der Immunologe Kristian Andersen als ein Indiz dafür bewertet, dass sich diese Hoffnung nicht bewahrheitet habe.[74] Als Mitursache für den Wiederanstieg der Fallzahlen wurde im Februar 2021 eine möglicherweise dem Immunsystem ausweichende Virusmutante vermutet.[81]
In Ischgl, wo sich das Virus anfangs unkontrolliert vermehrte, fanden Untersuchungen der Medizinischen Universität Innsbruck einen hohen Anteil (45,4 Prozent im November 2020) von Personen mit Antikörpern gegen SARS-CoV-2 und es wurde vermutet, dass in Kombination mit allgemeinen Hygienemaßnahmen ein Wiederanstieg der Fallzahlen Ende 2020 verhindert worden sei. Dieser „Schutzwall“ stehe jedoch durch neue Virusmutationen unter Druck.[82]
Es wird auch diskutiert, dass höhere Immunitätsraten einen Selektionsdruck erzeugen könnten, der impfresistente Mutanten begünstige.[83]
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