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Instrumentalwerk für ein Soloinstrument zu Lernzwecken Aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Eine Etüde (von französisch Étude „Studie“; spanisch Estudio) ist in ihrem ursprünglichen Wortsinn (les études = „Studium“; étudier = „studieren“) ein Instrumentalwerk für ein Soloinstrument, das dem Musizierenden zu größeren Fertigkeiten auf seinem Instrument verhelfen soll. Im Mittelpunkt steht ein kurzes spieltechnisches Problem, das häufig wiederholt und in Sequenzen auftritt. Im Gegensatz zu den Übungen sind die Etüden harmonisch strukturiert und können auch die Tonarten wechseln.
Der Terminus Etüde erscheint erstmals in der Violinliteratur um 1750 in einer Ausgabe von Giuseppe Tartinis L’arte dell’arco.[1]
Im 19. Jahrhundert entwickelt sich die Etüde zum Bravourstück des Virtuosen, der hier seine spieltechnischen Fertigkeiten einem Publikum präsentiert und am Klavier zu einer poetischen Pianistik führt.
Klavierstücke welche, ohne explizit als Etüde bezeichnet zu sein, die Funktion einer Etüde für gewisse technische und/oder musikalische Probleme haben, gibt es fast schon seit Beginn der Klaviermusik. So schrieb Oscar Bie über die Klaviermusik Johann Sebastian Bachs:
„Sie [Anm.: gemeint ist hier die Etüde] ist in nuce bei Bach da, sie ist aus der Thematik halb herausgewachsen, nur der Sehwinkel ändert sich mit der Zeit. In einer Bachschen Inventio oder Sinfonia wird ein Motiv nach freien Gesetzen der Imitation bearbeitet, es wird für alle Stimmen, für alle Finger ausgenutzt. In einem Preludio über irgendein thematisches Grundsujet, in einer Fuge mit ihrem strengen Kodex der kanonischen Aufeinanderfolge geschieht nur dasselbe: das Motiv an sich wird ausgenutzt.“[2]
Im Gegensatz zu den meisten späteren explizit als Etüde benannten Stücken ist aber der technische Übungswert noch nicht klar vom intendierten musikalischen Ausdrucksgehalt getrennt.
„Bach schrieb manche seiner Preludes aus Unterrichtsgründen, aber er komponierte sie noch nicht streng nach ihrer vollen praktischen Verwertung. Wie in der Theorie das Musikalische und das Mechanische nicht scharf auseinandergehalten werden, so sind auch die Stücke halb Musikbringer, halb nur Lehrmittel. Das Mechanische musste sich erst emanzipieren, ehe man den Begriff der Etüde rein fasste.“[3]
Im 18. Jh. entstanden für das Klavier die sog. Handstücke: Nach Daniel Gottlob Türk waren Handstücke „kurze Allegros, Andante und dgl auch leichte und gut gesetze Menuetten, Polonaisen etc.“ für den Klavierunterricht, die die rein technischen Übungen ergänzen sollten. Diese Handstücke schrieben die Klavierlehrer unmittelbar für die Bedürfnisse ihrer Schüler und wurden daher nur zu einem geringen Teil veröffentlicht, weil nach Türk „nicht leicht ein Komponist von Ruf damit auftreten mag.“
Die Etüde löste um 1800 den älteren Begriff Handstück ab. Anfangs war sie noch nicht allein auf spieltechnische Studien eingeschränkt. Auch erscheint sie anfangs häufig als Sammelbegriff, während die einzelne Studie als „Exercise“ oder – vor allem bei der Violinliteratur – als „Caprice“ bezeichnet wurde. Mit der heraufziehenden Romantik erlebte die Etüde eine musikalische Aufwertung. Karl Borromäus von Miltitz setzt „Fingerübungen mit Geist“ der Etüde gleich, während „Fingerübungen ohne Geist“ für ihn bloße Exercices waren.[4]
Etüden gehen auf Problemstellungen beim Klavierspiel ein. Mögliche Problemstellungen in Etüden für das Klavier sind zum Beispiel Terzläufe, Akkordspiele, Glissandi, Geläufigkeit, Staccato oder die Unabhängigkeit der Hände. Durch das Spielen der auf das spezifische Problem ausgelegten Etüde können Klavierspieler diese Schwierigkeiten gezielt proben.
Die bedeutendsten Etüdenkomponisten für Klavier waren die drei Komponisten mit den C: Muzio Clementi, Johann Baptist Cramer und Carl Czerny.
Der von Muzio Clementi zwischen 1817 und 1826 verfasste Gradus ad parnassum als ein aus 100 Studien bzw. Etüden bestehendes Klavierlehrbuch zeigt die Schwerpunktverschiebung vom musikalische Ausdruckswerte und technische Aspekte verbindenden „Etüdenverständnis“ des 18. Jahrhunderts zum eher technisch-virtuosen Verständnis des 19. Jahrhunderts. Clementis Sammlung enthielt neben spieltechnischen Studienwerke auch Präludien und Fugen, Kanons, Sonatensätze und Charakterstücke. Das Werk wurde immer wieder von Pianisten und Pädagogen für den allgemeinen Gebrauch bearbeitet, so von Carl Tausig.
Seinem Werk folgten im selben Sinn die Etüdensammlungen von Johann Baptist Cramer und Johann Nepomuk Hummel.[5] Bei Cramer tauchen in den Etüden (op. 55, 1818 und op. 70, 1825) Stücke mit Überschriften wie Zufriedenheit, Traurige Gedanken, Der Bach und Der Nordwind auf, die den Weg zum lyrischen Klavierstück vorzeichnen. Cramers als fünfter Teil der Großen praktischen Pianoforte-Schule (1815) herausgegebenen vierundachtzig Etüden op. 50, zwischen 1804 und 1810 entstanden, sind heute mancherorts noch in der Klavierpädagogik von Bedeutung. Sie wurden von Hans von Bülow überarbeitet (Cramer-Bülow-Etüden).
Am bekanntesten waren die Etüdensammlung von Carl Czerny. Er schrieb Etüden für alle Leistungsstufen der Pianistik: Vom Anfänger bis zum Virtuosen entwickelte er leicht verständliche Stücke, die sich mit speziellen Problemen des Klavierspiels auseinandersetzten.
Auch andere Instrumente wurden mit ähnlichen Etüdenwerken bedacht. Wilhelm Volckmar (1812–1887) komponierte eine Geläufigkeits-Schule Op. 270 für Orgel. Wilhelm Popps (1828–1902) Schule der Geläufigkeit für Flöte trägt die Opuszahl 411, Ernesto Köhlers (1849–1907) gleichnamiges Werk für dasselbe Instrument die Opuszahl 77.
Ab 1830, in der Zeit der Romantik, entwickelte sich aus den Etüden eine eigenständige Musikform, die zwar auch dem Studium besonderer Fertigkeiten diente, aber darüber hinaus als konzertantes Werk einem Publikum zu Gehör gebracht wurde. Beispiele hierfür sind die 24 Capricen für Violine von Niccolò Paganini und die 12 Capricen op. 25 für Violoncello von Alfredo Piatti (geschrieben 1865[6]).
Revolutioniert wurde die Klavieretüde in technischer, musikalischer und gesellschaftlicher Hinsicht durch Frédéric Chopin. Es war vollkommen neuartig, dass ein Pianist Etüden öffentlich vortrug. Chopin machte die Etüde damit kunst- und salonfähig. Seine virtuosen Etüden waren auch die Stücke, mit denen er die Zuhörer in den Salons am meisten begeisterte.[7] Sie erfuhren später in 56 „Studien“ von Leopold Godowsky sogar noch eine weitere Erschwerung. Chopins Etüden wurden schon damals als „geniale, stets poetisch-ausdrucksvolle Pianistik“ begriffen.[8] Ihre bis dahin unerhörten technischen Schwierigkeiten liegen nicht zuletzt in der Länge und Gleichartigkeit der Bewegung, beispielsweise mit etwa 600 Sexten in Etüde op. 10, Nr. 10. Die Etüden beginnen in C-Dur, was an Johann Sebastian Bachs Wohltemperiertes Klavier erinnert.[9]
Chopin folgten Franz Liszt und später auch Sergei Rachmaninow und Alexander Skrjabin mit eigenen Klavieretüden, welche die technischen Anforderungen noch einmal steigerten.
Études d’exécution transcendante lautet der Titel eines Zyklus von zwölf Klavieretüden von Franz Liszt. Die Etüden Liszts liegen in drei unterschiedlichen Fassungen vor. Die erste Fassung entstand 1826, die zweite 1837. Die dritte wurde 1851 oder 1852 fertiggestellt. Mit dem Titel „Études d’exécution transcendante“ ist die dritte Fassung gemeint.
Bei der Übertragung des Werktitels in die deutsche Sprache wird oft der Ausdruck Etüden von aufsteigender Schwierigkeit verwendet. Allerdings trifft diese Gesetzmäßigkeit nicht zu, denn als schwierigste der Etüden werden eher die vierte oder auch die fünfte angesehen. Eine direktere Übertragung des Titels wäre etwa Etüden von übernatürlicher Ausführung. Auch Liszts Etüden waren nicht nur Übungsstücke, sondern wurden vielmehr „zu einer eigenen poetischen Gattung“; er schildert dabei „romantische Impressionen“.[10] Dem Spieler wie Zuhörer begegnen Irrlichter (Feux follets), man begibt sich auf Wilde Jagd und endet im Schneegestöber (Chasse-neige).
Später entstanden die beiden Konzertetüden Gnomenreigen und Waldesrauschen, von Liszt komponiert 1862 oder 1863. Für die Grandes Etudes war ursprünglich eine Gesamtzahl von 24 Stücken in allen Tonarten vorgesehen, doch hat Liszt den Zyklus in dieser Gestalt niemals fertiggestellt. Bei seinem Opus 6 Étude en quarante-huit Exercices dans tous les Tons Majeurs et Mineurs wurden am Ende nur die ersten 12 Stücke fertiggestellt (Erstausgabe 1826; im März 1839 Nachdruck der Erstausgabe als op. 1 durch den Friedrich Hofmeister Musikverlag, Leipzig).
Für Liszt war „Virtuosität … nicht das Ziel, sie war der Weg, um dem Klavier einen Kosmos völlig neuer Empfindungen zu erschließen“.[11]
Im Verlauf der Zeit entfernte sich diese Musikform von ihrem ursprünglichen Sinn, dem Erlangen einer größeren Fingerfertigkeit. Neben der unterrichtsgebundenen Etüde als Lernstoff „bildet sich die Konzertetüde großen Stils aus“.[12] Das zeigt sich in Ansätzen bereits bei einigen Etüden (Skrjabin). Aber auch die Sinfonischen Etüden (Schumann) sind ein Beispiel für die Abkehr vom ursprünglichen Gedanken einer Etüde, handelt es sich dabei doch vielmehr um Variationen über ein Thema. Ebenso handelt es sich bei den Paganini-Variationen op. 35 (zwei Bände) von Johannes Brahms um eine Sammlung von Etüden; sie tragen unmissverständlich im Untertitel den Namen Studien für Pianoforte.
Seit dem frühen 19. Jahrhundert gibt es bereits mehrstimmige Etüden, wie beispielsweise die 21 Etüden für Violoncello mit Begleitung eines zweiten Violoncellos von Jean-Louis Duport (erschienen 1806), die 12 Etüden für Horn mit Begleitung des Klaviers von Josef Rudolf Lewy oder die 6 Etüden für 2 Klarinetten op. 74 von Iwan Müller.
Die Klaviertechnik hat sich noch einmal stark erweitert. Im 20. Jahrhundert entstanden diverse Etüden-Werke unterschiedlichster Art.
Komponisten wie György Ligeti schrieben ganze Etüdenwerke, deren Etüden musikalisch hochwertige Stücke sind, die mit der Eigenart der manuellen Übung nichts mehr gemein haben.
Mit den hochvirtuosen „12 Études“ (1915) schuf Claude Debussy die Verbindung der sogenannten pianistischen Probleme mit einer Ästhetik, die aus ihnen selbst erwächst und kompositorisch durch davon abgeleitete Themen ausbalanciert wird. Jede Etüde behandelt ein Spezialproblem. Die ersten sechs Etüden sind den Mechanismen der Finger gewidmet, wohingegen sich die restlichen sechs mit Klängen und Klangfarben beschäftigen. Hierbei könnte der Verweis auf Czerny in der „Étude 1 pour les cinq doigts d'après Monsieur Czerny“, welche aus dessen Fünf-Finger-Motiv eine ganz neue Tonwelt spinnt, als die Verklanglichung einfacher, überholter Fingerübungen und deren Übertragung in etwas musikalisch Wertvolles aufgefasst werden, stand doch bis dahin häufig die Virtuosität der Technik im Vordergrund.[13]
Das Klavierwerk wurde zusätzlich durch Instrumental-Komponisten wie Marc-André Hamelin bereichert, die als Virtuosen ihre eigene Spielfähigkeit zu erweitern suchten und Etüden in traditioneller, tonaler Kompositionsart schrieben. In den Jahren 1986 bis 2009 schuf Hamelin einen Zyklus von zwölf Etüden in allen Moll-Tonarten (12 Études in all the minor keys), den er am 23. August 2010 in Husum im Rahmen des Musikfestivals Raritäten der Klaviermusik zum ersten Mal komplett aufführte.[14]
Bekannte Etüden für Streichinstrumente sind auch Werke, wie die 4 Studien von Bernd Alois Zimmermann für Violoncello solo, geschrieben 1970 kurz vor Zimmermanns Freitod – ursprünglich als komplettes Etüdenwerk zur Interpretation zeitgenössischer Spieltechniken für Cello gedacht und von Siegfried Palm in Auftrag gegeben.
Etüden sind im 20. Jahrhundert keineswegs nur Werke für einen einzelnen Interpreten. Die Praxis aus der Romantik, Etüden mit Begleitung zu konzipieren, wird im 20. Jahrhundert fortgesetzt. Als Duett-Etüden erschienen 1954 Kanonische Etüden für 2 Querföten von Günter Bialas sowie Zu zweien durch den Tonkreis für 2 Blockflöten von Hans-Ulrich Staeps. Außerdem arrangierte Emmerich Bünemann Etüden zu Dritt für 3 Violoncelli[15] und Adrian Wehlte schrieb Etüden für 2–4 Flöten (2011).[16]
Hendrik Andriessen schuf 1952 eine Symphonische Etüde für ein ganzes Orchester. Erich Urbanner schrieb 1965 eine Etüde für Bläserquintett. Von Boris Alexandrowitsch Tschaikowski stammen Sechs Etüden für Streicher und eine Orgel (1976).
Edisson Wassiljewitsch Denissow
Alexei Konstantinowitsch Lebedew
Anatoli Sergejewitsch Komarowski
Jakob Sakom
Sergei Alexandrowitsch Kussewizki
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