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Schriftsteller mit juristischer Ausbildung Aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Der Begriff Dichterjurist bezeichnet einen Dichter (Epiker, Lyriker, Dramatiker) mit juristischer Ausbildung. Der Begriff wurde von Eugen Wohlhaupter in den 1950er-Jahren in der Rechtswissenschaft etabliert und wird mittlerweile auch in der Literaturwissenschaft verwendet. Vom Dichterjuristen im engeren Sinn, der sein Studium abschloss (z. B. Franz Kafka), lässt sich der Dichterjurist im weiteren Sinn, der sein Studium abbrach (z. B. Jacob Grimm), unterscheiden.
Den Hang zu schreiben verspüren viele Dichterjuristen schon in Kindheit und Jugend (z. B. Kurt Tucholsky). Die Beschäftigung mit dem Recht gewinnt an Terrain während des Studiums, das teils aus echtem Interesse (Alexis Piron), teils als „Brotstudium“ (wohl Heinrich Heine) auf Wunsch der Eltern (Georg Heym) begonnen wird. Nach Ende der Ausbildung und Etablierung im Beruf erlangt das Verfassen von Romanen, Dramen und Gedichten wieder verstärkte Bedeutung (Bernhard Schlink). Fiktionales Schreiben steht dabei entweder neben der beruflichen Tätigkeit (Goethe) oder tritt ganz an deren Stelle (John Grisham).
Dass es so viele Dichterjuristen gibt, wird auf die Gemeinsamkeiten von Recht und Literatur zurückgeführt.[1]
Recht und Literatur befassen sich beide mit der Realität.[2] Recht dient der Steuerung sozialer Prozesse,[3] und Literatur spiegelt diese sozialen Prozesse wider.[4] Als Gegenstand von Gerichtsverfahren werden insbesondere solche Sachverhalte öffentlich wahrgenommen, in denen es um große Themen geht: um Liebe, Tod und Leidenschaft, um Macht, Geld und Verrat. Das ist zugleich der Stoff, aus dem Literatur entsteht.[5] Daher wählen viele fiktionale Bearbeitungen jedenfalls in Teilen als Vorbild das Leben, wie es insbesondere in Kriminalprozessen erörtert wurde (z. B. Bernd Schroeders Hau),[6] oder beschreiben Gerichtsverfahren unmittelbar (Der Vorleser, Der Regenmacher, The Caine Mutiny Court Martial). Die US-amerikanische Law-&-Literature-Bewegung hat darauf hingewiesen, dass auch gerichtlich festgestellte Sachverhalte letztlich auf Erzählungen (von Zeugen, Sachverständigen und in Plädoyers) beruhen und daher in diesem Sinn selbst Erzählungen – im Sinn von künstlichen (nicht: künstlerischen) Fabrikationen – sind.[7] Letztlich richtet sich dieses Argument gegen die Unterscheidung von Fiktion und Realität.
Die zweite Gemeinsamkeit liegt in der Sprache.[8] Sie ist sowohl im Recht als auch in der Literatur der Gegenstand des Bemühens, wenn auch auf unterschiedliche Weise. Recht ist weitgehend geschriebenes Recht, aufbewahrt in Gesetzestexten[9] und in Gerichtsurteilen.[10] Daher ist Sprache auch für Juristen das Handwerkszeug.[11] Nicht umsonst ist eigens vorgeschrieben, dass die Gerichtssprache deutsch sei (§ 184 des Gerichtsverfassungsgesetzes), und nicht ohne Grund beginnt die Auslegung von Gesetzen beim Wortlaut der Norm (siehe grammatische Auslegung), so dass Dichterjuristen meinen, dass die juristischen Auslegungsmethoden „in einer etwas weniger starren Form“[12] auch künstlerische Relevanz entfalten können.
In Literatur und Recht geht es also jeweils um den Zusammenhang von Realität und Sprache. Der Jurist nimmt einen Lebenssachverhalt und fragt, ob der Gesetzestext diesen erfasst (Subsumtion). Der Literat nimmt die Realität und versucht, das „mot juste“, das „ultimativ passende Wort dafür“[12] zu finden. Als vermittelndes Zwischenglied zwischen Rechtswissenschaft und Literatur können die Sammlungen berühmter Kriminalfälle angesehen werden, am bekanntesten diejenige von François Gayot de Pitaval, die dem Genre den Namen gegeben hat (siehe Pitaval). Sie sind bis heute Stoff-Fundgruben für Autoren aller Art.
Es mag an diesen Gemeinsamkeiten liegen, dass im In- und Ausland über die Jahrhunderte hinweg viele Schriftsteller juristisch gearbeitet haben.[13] Der Weg in die Belletristik entlässt Dichterjuristen zugleich aus einem Zwang, der nur im Recht besteht: Juristen müssen den Fall entscheiden (Justizverweigerungsverbot[14] als Kehrseite des Justizgewährungsanspruchs[15]); im Unterschied dazu können Dichter sich einer abschließenden Bewertung ihres Lebenssachverhalts enthalten und sogar in der Schwebe lassen, welchen Ausgang ihre Geschichte tatsächlich nimmt (sog. offener Schluss). Recht und Literatur benutzen mit der Sprache zwar das gleiche Medium, aber sie verwenden es zu anderen Zielen: Das Recht zieht Grenzen; die Kunst überschreitet sie.[16] Insoweit bilden Reichtum und Vielfalt der schönen Literatur einen natürlichen Gegensatz zur rechtlichen und wissenschaftlichen Prosa.
Dichterjuristen sagen, dass ihr künstlerisches Schaffen als Schriftsteller wesentlich anders aussähe, wenn sie dem Recht nicht begegnet wären.[17] Juli Zeh hält es sogar für möglich, dass sie ohne das juristische Studium nicht in der Lage wäre, Romane zu schreiben,[18] jedenfalls helfe ihr das „präzise und strukturierte Denken des Juristen“ auch beim Schreiben von Belletristik,[19] und Martin Mosebach meint umgekehrt, dass ein germanistisches Studium „eine schwere Belastung für einen Schriftsteller“[20] darstelle.
Dichterjuristen sind nicht nur Autoren, sondern auch Gegenstand von Literatur. Jonathan Littells Les Bienveillantes (Die Wohlgesinnten) ist der Lebensbericht eines promovierten Juristen, des SS-Offiziers Max Aue.[21] Auch der autobiographierende Ich-Erzähler fühlt sich zur Literatur hingezogen:
„Wenn ihr’s wirklich wissen wollt, lag mir auch nichts ferner als Jura: Als junger Mann hätte ich am liebsten Literatur und Philosophie studiert. Das wurde mir verwehrt – ein trauriges Kapitel meines Familienromans …“
Schließlich gibt es Fälle, in denen ein Dichterjurist einen Dichterjuristen zum Protagonisten der Erzählung macht. Der Dichterjurist Bernhard Schlink erzählt in Der Vorleser aus der Ich-Perspektive des Dichterjuristen Michael Berg: Die Erzählung enthält auch ein Gedicht, das der Ich-Erzähler selbst geschrieben habe:
„Wenn wir uns öffnen
du dich mir und ich dir mich,
wenn wir versinken
in mich du und ich in dich,
wenn wir vergehen
du mir in und dir in ich.
Dann
bin ich ich
und bist du du.“
„Die Fähigkeit, sorgfältig lesen zu können, macht schließlich den Kern unseres beruflichen Repertoires aus und begründet unsere wunderliche Verwandtschaft mit den Gattungen der Literatur und der Poesie.“
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