Mit Debellatio bzw. Debellation (lat. für ‚vollständige Besiegung‘, ‚Kriegsbeendigung‘; zu bellum ‚Krieg‘), auch kriegerische Niederwerfung, bezeichnet man das durch vollständige Zerstörung und militärische Niederringung eines feindlichen Staates herbeigeführte Ende eines Krieges. Die inzwischen veraltete Debellatio-Doktrin im Völkergewohnheitsrecht besagte, dass ein militärisch vollständig besiegter Staat, dessen Institutionen zerstört sind, kein Völkerrechtssubjekt mehr ist.[1]
Voraussetzung für eine Debellation war, dass eines der drei für einen Staat konstitutiven Elemente durch kriegerische Handlungen verloren ging, also die Staatsgewalt, das Staatsvolk oder das Staatsgebiet.[2] Mit der Beseitigung der Staatsgewalt des debellierten Staates konnte die Inanspruchnahme des fremden Territoriums oder eines Teils davon durch den Sieger einhergehen.[3] Der französische Jurist Charles Rousseau unterscheidet die debellatio im Sinne einer kriegerischen Unterwerfung des gesamten Staates von der Annexion, die auf der Grundlage eines Friedensvertrages erfolge.[4] Nach der Juristin Ruth Lambertz-Pollan setzt eine debellatio dagegen geradezu voraus, dass das Gebiet des unterlegenen Staates annektiert wird.[5]
Ob zu einer Debellatio nicht nur die feindliche Staatsgewalt vollständig besiegt, sondern auch das feindliche Territorium vollständig erobert sein musste, war unter Völkerrechtlern strittig. Deswegen war auch eine Debellatio Frankreichs als völkerrechtliche Begründung für das Einrichten des (zeitweiligen) Generalgouvernements Elsaß-Lothringen umstritten; nicht ganz Frankreich war im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 besetzt worden und nur diesen, der deutschen Regierung unterworfenen Teil seines Staatsgebietes sollte Frankreich abtreten.[6]
Das allgemeine Gewaltverbot der Charta der Vereinten Nationen von 1945, das daraus folgende Annexionsverbot sowie das im IV. Genfer Abkommen von 1949 kodifizierte Besatzungsrecht bedeuten ein Debellations- und Annexionsverbot.
Debellationstheorie zur Rechtslage des Deutschen Reiches nach 1945
Von vereinzelten[7] Wissenschaftlern[8] wurde die Situation des Deutschen Reichs am Ende des Zweiten Weltkriegs als Debellation gesehen, weil die Wehrmacht bedingungslos kapitulierte. Eine Debellation hat aber in der Regel eine vollständige Auflösung („Untergang des Staates“) in unabhängige Staaten – wenngleich der reine Tatbestand der debellatio für sich allein kein Grund für den Staatsuntergang ist[9] – oder die Eingliederung des Gebiets des besiegten Landes in das eigene Staatsgebiet zur Folge (Total- oder Vollannexion).[3] Im Falle Deutschlands liegt nach ganz herrschender Meinung keine debellatio vor, da Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt fortexistierten.[10] Das wurde nicht zuletzt durch die Berliner Erklärung der Alliierten vom 5. Juni 1945 ausdrücklich bestätigt.[11]
- Das Staatsgebiet existierte in seinem Gebietsstand vom 31. Dezember 1937 fort, die Alliierten erklärten explizit, Deutschland werde nicht annektiert.[12] Die deutschen Ostgebiete wurden indes abgetrennt und letztendlich zum einen per Erlass[13], zum anderen faktisch[14] annektiert.
- Auch das deutsche Staatsvolk existierte fort, nicht die gesamte Bevölkerung wurde ausgelöscht oder ausgesiedelt.
- Die deutsche Staatsgewalt schließlich wurde nicht abgeschafft, sondern eben in der Berliner Erklärung von den Alliierten übernommen. Ob diese die Regierungsgewalt als Treuhänder des deutschen Volkes ausübten oder eigennützig und im Irrglauben, diese Übernahme sei durch das Völkerrecht gedeckt, ist umstritten.[15] Zudem ist fraglich, ob die Staatsgewalt im Deutschen Reich ab 1945 vollständig ersetzt worden war.[16]
Zur Frage, ob das Deutsche Reich 1945 durch Debellation untergegangen sei, stellte das Bundesverfassungsgericht der Bundesrepublik Deutschland in seiner Entscheidung vom 31. Juli 1973 zum Grundlagenvertrag fest, dass das Grundgesetz davon ausgehe, dass es in rechtlicher Hinsicht fortbestehe und in den (1973 noch geltenden) Rechten und Verantwortlichkeiten der ehemaligen Besatzungsmächte für „Deutschland als Ganzes“ (Viermächtestatus) noch ein Rest der Existenz des Deutschen Reiches sichtbar sei.[17]
Debellationstheorie zur Rechtfertigung des regime change im Irakkrieg
Erklärtes Ziel der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten im Irakkrieg 2003 war ein regime change: Die Diktatur Saddam Husseins und seiner Baath-Partei sollte gestürzt und ein demokratisches Regime eingerichtet werden. Dies kam in Resolution 1483 des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen vom 22. Mai 2003 zum Ausdruck, in der gefordert wurde, auf die Schaffung von Bedingungen hinzuarbeiten, „in denen das irakische Volk seine eigene politische Zukunft frei bestimmen kann“.[18] Diese und andere weitgehende Eingriffe in die politische, wirtschaftliche oder Rechtsordnung eines besetzten Gebiets sind nach dem Besatzungsrecht jedoch unzulässig. Die Rechtswissenschaftlerin Melissa Patterson argumentiert daher, dass die Besatzungsmächte den Irak einer Debellation unterwarfen, ohne dies offen zu erklären. Das Vorgehen unter Besatzungsrecht sei zwar nachvollziehbar, da die Vereinten Nationen für das Nation building in gescheiterten Staaten, das sie verschiedentlich anstrebten, sonst keine hinreichende Rechtsgrundlage hätten. Andererseits habe diese Rechtskonstruktion zu dem Chaos, das auf die Besetzung folgte, wesentlich beigetragen und stelle einen gefährlichen Präzedenzfall dar. Daher plädiert Patterson dafür, das Debellationsrecht anzuwenden, das den Siegermächten einen begrenzten Rechtstitel zur Reorganisation des Irak verschaffen würde.[19]
Carolin Söfker: Durch die Besatzungsmacht geprägte Neuordnungen besetzter Staaten: Welche Auswirkungen haben völkerrechtlich verbotene Angriffskriege auf die Reichweite der Kompetenzen von Besatzungsmächten? Untersucht am Beispiel des Irak-Krieges, Herbert Utz Verlag, München 2015, ISBN 978-3-8316-4389-9, S. 46.
Friedrich Berber: Lehrbuch des Völkerrechts. Bd. 2: Kriegsrecht. C.H. Beck, München 1969, S. 100, zitiert nach Gilbert Gornig: Der völkerrechtliche Status Deutschlands zwischen 1945 und 1990. Auch ein Beitrag zu Problemen der Staatensukzession. Wilhelm Fink, München 2007, S. 19; Kai Terstiege: Die Rechtsstellung von Streitkräften in fremdem Territorium. Nomos, Baden-Baden 2010, S. 75 mit weiterer Literatur.
Ruth Lambertz-Pollan: Auf dem Weg zu Souveränität und Westintegration (1948–1955). Der Beitrag des Völkerrechtlers und Diplomaten Wilhelm Grewe. Nomos, Baden-Baden 2016, S. 111.
Sophie Charlotte Preibusch: Verfassungsentwicklungen im Reichsland Elsaß-Lothringen 1871–1918. Integration durch Verfassungsrecht?, BWV, Berlin 2006, ISBN 3-8305-1112-4, S. 34 ff.
Karl Doehring: Völkerrecht, 2. Aufl., Heidelberg 2004, § 11 Rn. 648; vgl. Michael Stolleis: Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Band 4: Staats- und Verwaltungswissenschaft in West und Ost 1945–1990, München 2012, S. 34.
Zur Begründung der Debellationsthese vgl. Hans Kelsens Aufsatz: The International Legal Status of Germany to be established immediately upon Termination of the War, in: AJIL 38 (1944), S. 689–694 (englisch). Siehe außerdem Georg Meyer, Soldaten ohne Armee. Berufssoldaten im Kampf um Standesehre und Versorgung. In: Martin Broszat, Klaus-Dietmar Henke, Hans Woller (Hrsg.): Von Stalingrad zur Währungsreform. Zur Sozialgeschichte des Umbruchs in Deutschland, 3. Aufl., Oldenbourg, München 1990, S. 705. Daneben gab es weitere wie der Politikwissenschaftler Wilhelm Hennis (1974), Die Rolle des Parlaments und die Parteiendemokratie, in: ders. (Hrsg.), Regieren im modernen Staat (= Politikwissenschaftliche Abhandlungen, Bd. I), Mohr Siebeck, Tübingen 1999, S. 226–273, hier S. 233. Kritisch dazu allgemein Eckart Conze: Herrschaft und Politik. Ein Kommentar. In: Anselm Doering-Manteuffel (Hrsg.): Strukturmerkmale der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts, 2006, S. 109–117, hier S. 115.
Hermann Mosler, Kriegsende. In: Karl Strupp, Hans-Jürgen Schlochauer: Wörterbuch des Völkerrechts, Bd. II, 2. Aufl., Walter de Gruyter, Berlin/New York 1961, S. 336.
Gilbert Gornig: Der völkerrechtliche Status Deutschlands zwischen 1945 und 1990. Auch ein Beitrag zu Problemen der Staatensukzession. Wilhelm Fink, München 2007, S. 20 ff.; ferner Andreas Zimmermann, Staatennachfolge in völkerrechtliche Verträge. Zugleich ein Beitrag zu den Möglichkeiten und Grenzen völkerrechtlicher Kodifikation, Springer, Berlin/Heidelberg/New York 2000, ISBN 3-540-66140-9, S. 71 f., 82 f., 87 f., 92 mit weiteren Nachweisen; Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band V, C.H. Beck, München 2000, S. 1964 f.; Jochen Abr. Frowein, Die Verfassungslage Deutschlands im Rahmen des Völkerrechts, in: VVDStRL, Heft 49, 1990, S. 7–33.
Auch zum Folgenden Gilbert Gornig: Der völkerrechtliche Status Deutschlands zwischen 1945 und 1990. Auch ein Beitrag zu Problemen der Staatensukzession. Wilhelm Fink, München 2007, S. 19 ff.
Nachdem am 17. Oktober 1945 das nördliche Ostpreußen von der Sowjetunion offiziell annektiert worden war, wurde es per Erlass des Ministerrates der UdSSR vom 7. April 1946 als „Königsberger Gebiet“ in die RSFSR eingegliedert. – V. S. Isupov et al. (Hgg.): Samaja Zapadnaja. Sbornik dokumentov i materialov o stanovlenii i razvitii Kaliningradskoj oblasti (Bd. 1), Dokument No. 1, Kaliningrad 1980, S. 17.
Vgl. das Dekret vom 13. November 1945 über die Verwaltung der wiedergewonnenen Gebiete, die Verordnungen des Ministerrats vom 29. Mai 1946 über die vorläufige Verwaltungseinteilung der wiedergewonnenen Gebiete sowie das Gesetz vom 11. Januar 1949 über die Eingliederung der wiedergewonnenen Gebiete (Dziennik Ustaw [Gesetzblatt der Republik Polen], 1945, Nr. 51, Pos. 295 [Dz.U. z 1945 r. nr. 51 poz. 295. Abgerufen am 19. März 2023 (polnisch).]; 1946, Nr. 28, Pos. 177, 178; 1949, Nr. 4, Pos. 22).
Gilbert Gornig: Der völkerrechtliche Status Deutschlands zwischen 1945 und 1990. Auch ein Beitrag zu Problemen der Staatensukzession. Wilhelm Fink, München 2007, S. 19 ff.
Melissa Patterson: Who’s Got the Title? or, The Remnants of Debellatio in Post-Invasion Iraq. In: Harvard International Law Journal 7, No. 2 (2006), S. 467–488; Philip Spoerri: The Law of Occupation. In: Andrew Clapham und Paola Gaeta (Hrsg.): The Oxford Handbook of International Law in Armed Conflict. Oxford University Press, Oxford 2014, S. 182–205, hier S. 192.