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Nuklearkomplex in England Aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Sellafield (früher Windscale) ist ein britischer Nuklearkomplex an der Irischen See in der Grafschaft Cumbria in Nordwestengland. Der River Ehen mündet am Rande der Anlage ins Meer und der River Calder fließt durch das Gebiet der Anlage, bevor er dort ebenfalls ins Meer mündet. Die Anlage liegt beim Dorf Seascale in der Unitary Authority Cumberland.
Sellafield | ||
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Luftbild der Sellafield-Anlage (2005). Die vier Kühltürme des KKW Calder Hall wurden 2007 abgerissen. Der Abluftturm des Windscale Reaktors 2 wurde bereits 2001 abgerissen. Auf dem Foto ist der ca. 125 m hohe Turm des verunglückten Reaktors 1 noch zu erkennen, welcher sich im aktiven Rückbau (bis ca. 2025) befindet. Die Kugel ist der WAGR, welcher bereits 1981 stillgelegt wurde mit vollständigem Rückbau bis ca. 2005. (Stand 2023). | ||
Lage | ||
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Koordinaten | 54° 25′ 7″ N, 3° 29′ 51″ W | |
Land | Vereinigtes Königreich | |
Daten | ||
Eigentümer | Nuclear Decommissioning Authority | |
Betreiber | Sellafield Ltd | |
Projektbeginn | 1958 | |
Kommerzieller Betrieb | 1. März 1963 | |
Stilllegung | 3. April 1981 | |
Stillgelegte Reaktoren (Brutto) |
1 (sowie Windscale 1+2) (41 MW) | |
Eingespeiste Energie seit Inbetriebnahme | 3.258 GWh | |
Stand | 10.07.2023 | |
Die Datenquelle der jeweiligen Einträge findet sich in der Dokumentation. |
Der Betreiber am Standort ist die Sellafield Ltd, ein Unternehmen der Nuclear Decommissioning Authority (NDA). Sellafield, wie auch andere nukleare Anlagen in Großbritannien, werden von der Atomaufsichtsbehörde Office for Nuclear Regulation (ONR) reguliert.[1][2]
Der Komplex wurde durch einen katastrophalen Brand 1957[3] und durch häufige nukleare Störfälle bekannt und unter anderem deshalb auch 1981 in Sellafield umbenannt. Auf dem Gelände des Komplexes befindet sich außerdem das Kernkraftwerk Calder Hall, das als erstes westliches Kernkraftwerk Strom in ein kommerzielles Netz einspeiste.
Die erste Anlage entstand nach dem Zweiten Weltkrieg auf dem Gelände einer Munitionsfabrik. Die Zuständigkeit für die Kernforschung hatte seit 1952 die United Kingdom Atomic Energy Authority (UKAEA).[4] Großbritannien wollte mit der US-amerikanischen Atomwaffenentwicklung (vgl. Manhattan-Projekt) technologisch und militärisch gleichziehen. Dabei musste ein eigenes, britisches Nuklearprogramm gestartet werden, da Großbritannien überraschend von dem amerikanischen McMahon Act aus dem Jahr 1946 vom Wissen und der Forschung zu Kernwaffen ausgeschlossen wurde.
Die auch unter dem Begriff Pile 1 bzw. Pile 2 bekannt gewordenen, luftgekühlten graphitmoderierten Windscale-Reaktoren (auch genannt British Production Piles[5]) waren die erste britische Produktionsanlage zur Herstellung des benötigten waffenfähigem Plutonium-239. Sie wurde für das britische Kernwaffenprogramm in den späten 1940er-Jahren errichtet. Zwischen den beiden Reaktoren (Pile 1 und 2) befand sich das Abklingbecken für abgebrannte Brennelemente sowie eine erste ältere Wiederaufarbeitungsanlage.
Bei den hastigen Bemühungen, eine britische Atombombe zu bauen, wurde anfänglich wenig auf Umwelt und Gesundheit geachtet und radioaktiver Abfall bis etwa in die 1970er Jahre[6] in die Irische See geleitet.[7] Ab diesem Zeitpunkt wurden die Abflüsse durch die Maßnahmen und Aktivitäten der Firma British Nuclear Fuels (BNFL) stark reduziert, mit Anpassungen an strengere Grenzwerte. Nach Angaben von BNFL wurden bspw. die Dosen für Mitglieder der marine critical group von etwa 2 Millisievert pro Jahr in den frühen 1980er Jahren auf etwa 0,1 Millisievert pro Jahr gesenkt (Stand 2000). Die Empfehlungen der Grenzwerte stammen z. B. von der Internationalen Strahlenschutzkommission (ICRP).[8] Auf ähnliche Weise wie bei Windscale bzw. Sellafield verklappten damals auch die USA (siehe Hanford Site) und die Sowjetunion einen Teil ihrer radioaktiven Abfälle.
1957 kam es in einem der Reaktoren zu einem Brand des Reaktorkerns, der retrospektiv als INES 5 („ernster Unfall“) eingestuft wurde.[9]
Stand 2023 befindet sich die Anlage am Standort Sellafield im Umbau und Rückbau. Ein Forscherteam der University of Manchester unter der Leitung von Richard Taylor versucht die aktuellen Entwicklungen mitzuverfolgen.[10]
Alle Angaben Stand 2023.
Der Vorstand von Sellafield Ltd ist Tony Meggs. Interim Chief Executive Officer ist Euan Hutton.[11] Es arbeiten rund 11.000 Menschen aktiv an der Anlage und weitere 40.000 in der Zulieferindustrie.[12]
Der Anlagenkomplex wird von der Civil Nuclear Constabulary, einer Polizeieinheit für Nuklearanlagen in Großbritannien, überwacht und kontrolliert.
Auf dem Gelände befinden sich nebst den Kernreaktoren (s. u.), die kerntechnische Anlagen:[13]
Am Standort existieren, unabhängig von Calder Hall, die Kraftwerksblöcke:
Reaktorblock | Reaktortyp | Netto- leistung |
Brutto- leistung |
Baubeginn | Netzsyn- chronisation |
Kommerzieller/Militärischer Betrieb | Abschaltung |
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Windscale Reaktor 1 | Graphit/Luft | n.b. | n.b. | 1947–50 | n. r. | 1951 | 1957 |
Windscale Reaktor 2 | Graphit/Luft | n.b. | n.b. | 1947–50 | n. r. | 1952 | 1957 |
Windscale Advanced Gas-Cooled Reactor (WAGR)[16][17][18] | AGR | 24 MW | 36 MW | 1. November 1958 | 1. Februar 1963 | 1. März 1963 | 3. April 1981 |
Die Sellafield Ltd berichtet ab 1. August 2017 laufend über verschiedene Vorfälle und Probleme auf der Regierungswebseite.[19] Ältere Berichte sind über das Internet Archive verfügbar.[20] Im Folgenden sind einige Fälle genauer beschrieben.
Vor allem die Wiederaufarbeitungsanlagen sind wegen ihrer Einleitungen von radioaktiven Stoffen in die Irische See umstritten.[23] Die Kontamination der unmittelbaren Umgebung von Sellafield wird in manchen Quellen mit der gesperrten Zone um Tschernobyl verglichen, was sich auch in staatlichen Protesten u. a. aus Irland und Norwegen widerspiegelt. Das Johann Heinrich von Thünen-Institut (dort das Institut für Fischereiökologie) verwies auf die hohen Einleitungen durch die britische Wiederaufarbeitungsanlage für die Jahre 1965 bis 1985 von bis zu 5000 TBq, also 5000 Billionen Becquerel pro Jahr Verklappung in die See.[24] In den letzten 15 Jahren wurde auf behördlichen Druck hin eine deutliche Reduktion der Einleitungen durchgesetzt. Unter anderem konnte die Einleitung des Isotops Technetium-99 durch ein neues Abtrennverfahren fast vollständig beendet werden. Der Dokumentarfilm „Atommüll: Endlager Meeresgrund“ aus dem Jahr 2013 zeigt, dass am Strand von Sellafield täglich an- oder freigespültes Plutonium maschinell aufgesammelt wird, nennt erhöhte Krebsraten in und um Sellafield, die von der britischen Regierung verschwiegen würden, und berichtet vom Fehlen eines Krebsregisters.[25]
Es erfolgt eine laufende Strahlungsüberwachung der Umgebung durch die irische Environmental Protection Agency.[26]
Weitere aktuelle (Stand 2021) Kennzahlen zu den verschiedenen Abfallprodukten, den Grenzwerten und Zählungen (Messungen, Statistik) sind öffentlich einsehbar (Discharges and Environmental Monitoring Annual Report 2021).[8]
Im September 2004 verklagte die EU-Kommission das Vereinigte Königreich vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) (Case C-155/0), gegen den Euratom-Vertrag zu verstoßen. Nach diesem Vertrag sind für Wiederaufarbeitungsanlagen Kontrollen durch die Europäische Gemeinschaft vorgeschrieben. Dabei wird die Buchführung über die radioaktiven Materialien geprüft und mit den bei den Inspektionen vor Ort ermittelten Ergebnissen verglichen. Nach Darstellung der EU-Kommission sind in Sellafield wegen der unfallbedingt hohen Radioaktivität und schlechter Sichtverhältnisse Kontrollen in der Anlage nicht möglich. Die EU-Kommission gewann den Prozess, das Urteil wurde am 18. Juli 2007 verkündet.[27]
Im Mai 2011 wurden fünf junge Männer wegen Terrorismusverdacht in der Nähe der Anlagen festgenommen.[28]
Anfang November 2014 wurde bekannt, dass seit 40 Jahren abgebrannte Brennelemente in nicht überdachten Abklingbecken unter freiem Himmel gelagert werden. Da sich an diesen Becken Vögel aufhalten und diese verstrahlt werden können, werden Vögel über dem Gelände abgeschossen und eingelagert. 2007 wurde Großbritannien vom Europäischen Gerichtshof verurteilt, da EU-Inspekteuren keine Kontrollen durchführen konnten, weil der Inhalt der Becken wegen der Algen nicht zu sehen war. Der Unternehmenssprecher sagt zu den maroden Abklingbecken: „Sie entsprechen nicht modernen Standards. Das macht sie aber nicht gefährlich, sondern bedeutet lediglich, dass der darin befindliche Müll zurückgeholt, umgepackt und in modernere Anlagen auf dem Gelände geschafft werden muss.“[29][30]
2007 wurde bekannt, dass von 65 Sellafield-Arbeitern zwischen 1962 und 1992 Gewebe zu Untersuchungen entnommen worden war. Die Regierung entschuldigte sich für diesen Vorfall.[31] Eine vollständige Aufarbeitung unter dem Titel „The Redfern Inquiry“ wurde veröffentlicht.[32]
Es befinden sich große Mengen Plutonium am Standort.[33] Sellafield lieferte nach Beschluss des ehemaligen Premierministers Clement Atlee das kernwaffenfähige Plutonium für die 1950 begonnenen Entwicklungsarbeiten am Atomic Weapons Establishment (AWE).[34][35]
Im Dezember 2023 berichtete der Guardian, es seien wichtige IT-Systeme gehackt und mit Schadsoftware infiltriert worden. Die Vorfälle reichten bis ins Jahr 2015 zurück, seien vom Betreiber aber verheimlicht worden. Es sei unbekannt, ob die Schadsoftware vollständig entfernt wurde, und Quellen deuteten darauf, dass ausländische Hacker auch Zugang zu Daten der höchsten Vertraulichkeitsstufe gehabt hätten. Wegen wiederholter Versäumnisse im Bereich der Cybersicherheit habe die Atomaufsichtsbehörde (Office for Nuclear Regulation) Sondermaßnahmen eingeleitet.[36] Die Aufsichtsbehörde bestätigte, dass die Anlage unter erheblich erhöhter Aufmerksamkeit stehe, auf Grund der laufenden Untersuchung aber keine weiteren Aussagen gemacht werden könnten. Die britische Regierung widersprach den Ausführungen des Guardian.[37][38] 2024 gab der Betreiber der Nuklearanlage Sellafield zu, dass die IT-Systeme unsicher waren und entschuldigte sich für Cybersicherheitsmängel. „Die nationale Sicherheit hätte gefährdet werden können.“[39]
Seit den 1970er Jahren wurden Filter- und Reinigungsanlagen durch die BNFL errichtet und betrieben.[6] Eine der Anlagen ist bspw. Enhanced Actinide Removal Plant (EARP).[40] Eine weitere Anlagen, die seit 1985 aktiv arbeitet, ist die Site Ion Exchange Effluent Plant (SIXEP).[41]
Großbritannien ist, wie auch viele weitere Anrainerstaaten, ein Signatarstaat des Abkommens OSPAR, zum Schutz der Nordsee und Umgebung.[42] In den Messzeiträumen 1995–2001 und 2012–2018 wurden jeweils radioaktive Entladungen von Kernanlagen gemessen und bewertet. Der Ausschuss Radioactive Substances Committee Thematic Assessment attestiert zusammenfassend in seinem Bericht für das Jahr 2023, dass "die Umweltkonzentrationen von Indikatorradionukliden im OSPAR-Meeresgebiet keine signifikanten radiologischen Auswirkungen auf den Menschen oder die Meeresumwelt haben."[43]
Sellafield berichtet laufend über die Einhaltung von Grenzwerten, festgelegt z. B. von der Internationale Strahlenschutzkommission (ICRP).[8] Eine Überwachung der Umgebung erfolgt auch durch die irische Environmental Protection Agency.[26]
Als erste Anlage wurde der WAGR-Reaktor nach einer Rückbaukampagne von über 20 Jahren im Mai 2011 außer Betrieb genommen.[44]
Bis in das Jahr 2018 wurde mit dem Thermal Oxide Reprocessing Plant (Thorp) die Wiederaufbereitung von ausländischen Brennelementen bedient und schließlich beendet.[45] Zu den Kunden zählten Italien, Japan, Schweiz, Deutschland und die Niederlande.[46] Für den Transport und Rücktransport ist die Nuclear Transport Solutions (NTS) zuständig. Sie gehört zur NDA.[47] Bis 2070 soll THORP für das Lagern von Brennelemente genutzt werden.[48]
Im Februar 2019 hat man begonnen, die 125 m hohen Schornsteine von Pile One abzubauen.[49] Drei Jahre später war der viereckige Luftverteiler abgebaut und zerlegt worden.[50]
Kurz vor Mitternacht am 17. Juli 2022 wurde die letzte Ladung abgebrannter Brennelemente in die Chargenmaschine der Magnox-Wiederaufbereitungsanlage 205 eingespeist und in Salpetersäure aufgelöst, um das Plutonium und Uran von den radioaktiven Abfälle abzutrennen. Mit der Anlage 205 wurden seit 1964 fast 55.000 Tonnen Magnox-Brennelemente wiederaufbereitet.[51]
Der Windscale Vitrification Plant soll bis 2030 operativ bleiben.[46]
Die Kosten (Stand 2013) der Stilllegung der Anlage bis 2020 wurde von der Rechnungsprüfungskommission im britischen Unterhaus auf 67,5 Mrd. Pfund Sterling (78 Mrd. Euro) geschätzt.[52][53] Laut Schätzungen aus dem Jahr 2018 soll der Rückbau der Wiederaufbereitungsanlage bis zum Jahr 2120 dauern und etwa 121 Mrd. Pfund kosten.[54]
Fachartikel und Fachbücher
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