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Die schamanistische Kosmologie beschreibt die (historische) Weltauffassung im klassischen Schamanismus der historischen Völker Sibiriens. Sie war bis zur Christianisierung bzw. Russifizierung durchgängig vorhanden. Heute ist davon nach Jahrhunderten der Unterdrückung und Verfolgung – selbst bei den heute wieder praktizierenden Schamanen – nur noch ein fragmentarisches Wissen vorhanden. Die folgenden Ausführungen stammen aus älteren ethnografischen Aufzeichnungen europäischer Forscher, deren Authentizität bisweilen fraglich ist und nicht mehr überprüft werden kann.[1][2]
Der Begriff Schamanismus dient hier als Sammelbezeichnung für die sehr ähnlichen animistischen Religionen dieser Ethnien. Im Kontext der spirituellen Schamanismus-Thesen von Mircea Eliade, Michael Harner und anderen Autoren wird die schamanistische Kosmologie häufig auf viele andere Kulturareale der Erde ausgeweitet. Trotz mancher analoger Ähnlichkeiten gelten solche Schlussfolgerungen heute als überholt.[3][4]
Die sibirische Kosmologie enthält fünf Grundannahmen:[5] Ihre Weltauffassung ist grundsätzlich dualistisch. Unterschieden wird die profane, diesseitige Welt der Menschen von der sakralen, jenseitigen der Geister und Ahnen.[6]
Die Drei-Welten-Kosmologie ist auf manchen Schamanentrommeln dargestellt. Ein senkrechter Pfeil symbolisiert den Weltenbaum, der in der Mitte der Welt steht. Er verbindet Unterwelt, irdische Welt und Himmel miteinander. Diese Darstellung findet man auf Trommelfellen der Türken, Mongolen und Tungusen in Zentralasien und Sibirien.[7] Das schamanische Weltbild ist vertikal strukturiert und in drei Welten gegliedert: der oberen, mittleren und unteren Welt, ohne Zusammenhang mit der einer Gut-böse-Wertung folgenden christlichen Aufteilung zwischen Himmel, Erde und Hölle. Die Grenzen zwischen diesen Welten sind jedoch nicht immer scharf gezogen, verschwimmen immer wieder und sind besonders zu bestimmten Zeiten (Nacht, zwischen den Jahreszeiten) durchlässig, so dass Kontakte zwischen den Bewohnern möglich sind und diese sich auch auf die anderen Ebenen begeben können. Allerdings ist das Verständnis dieser Welt stark ethnozentrisch geprägt, das heißt, der Brennpunkt der Schöpfung ist jeweils dort, wo sich das eigene Volk befindet.
Die Schamanen haben ihren Ursprung in diesen Vorstellungen von der Durchlässigkeit der Welten. Wie die sibirischen Mythen berichten, konnten früher alle Menschen diese Grenzen passieren, auch wenn solche Reisen sehr anstrengend und lang gewesen seien. Wegen der Unfähigkeit der Menschen zur Verständigung mit den Bewohnern der anderen Welten, für die sie unsichtbar gewesen seien, und weil die jenseitigen Geister den Kontakt mit Menschen nicht ertragen hätten, sei es schließlich üblich geworden, dass nur noch von den Geistern ausgewählte und ausgebildete Menschen solche Reisen unternahmen: die Schamanen als geschulte Mittler, ihre eigentliche Primärfunktion.[8]
Folgende Grundvorstellungen finden sich:[9]
Die obere und untere Welt sind in verschiedene Schichten (neun bzw. sieben) weiter untergliedert, die bestimmten Geistmächten zugeordnet sind. Die mittlere Welt ist den Lebenden, die untere den toten Seelen vorbehalten, die im Wurzelwerk des Weltbaumes hausen, sowie einer Vielzahl von Naturgeistern und Dämonen. Der Weltenbaum hat dabei entsprechend viele Astebenen.[8]
Der Mensch konnte nach den Vorstellungen einiger Ethnien mehrere davon haben, bei den Jakuten zum Beispiel drei: die für das Wohlergehen des Körpers zuständige Erdseele, die Luftseele, die das Zusammenleben innerhalb der Gemeinschaft und der Umwelt regelt, und die Mutterseele, die das Bewusstsein und Denken bestimmt. Alle drei Seelen bilden zusammen die Lebenskraft (Kout-Sur), die das Wohlergehen des Menschen insgesamt bestimmt.[10]
Der Mensch kann auch eine Spiegelseele haben, die man beim Blick ins Wasser sieht, und eine Schattenseele, die nur bei Sonnenschein sichtbar wird.[11] Die Seele kann sich unter bestimmten Umständen vom Körper trennen, etwa freiwillig, wie beim Schamanen, oder gezwungen wie bei schweren Krankheiten. Auch in Träumen schweift sie umher und tritt gelegentlich mit Geistern in Kontakt, was Krankheiten oder Tod auslösen kann. Beim Tod löst sie sich vom Körper und kehrt begleitet vom Schamanen zu ihrem Ursprung in der Unterwelt zurück oder geht in den Körper eines zukünftigen Menschen über (siehe auch: Seelenwanderung).
Um sich im teils gefährlichen Jenseits sicher bewegen zu können, benötigte der Schamane genaue Kenntnis über alle Ebenen, hochdifferenzierte „mentale Landkarten“ der jenseitigen Welten. Geister hatten ihre Heimatbereiche, die es jeweils zu finden galt und die mitunter, da diese Welten die Menschenwelt widerspiegelten, durchaus gefährlich und nur auf beschwerlichen Wegen zu erreichen waren oder von Ungeheuern und bösen Geistern bedroht wurden. Er musste weiter ihre Gebräuche kennen und ihre Geistersprache sprechen. Zwar führten ihn seine Hilfsgeister, doch wäre er ihnen ohne die Kenntnisse der „Jenseitstopographie“, ihrer Gefahren und der jeweils besten Einstiegsstellen hilflos ausgeliefert. Auch die Lage des Totenreiches musste der Schamane genau kennen, um die Ahnen aufzusuchen oder die Toten dorthin zu geleiten. Ebenso musste er die Lage der „Seelenkeimzentren“ kennen, wo neue Seelen entstanden, die Lage sicherer Verstecke für kranke Seelen, den Aufenthaltsort der Geistmächte, die er um Schutz und Hilfe bitten konnte. Es gab in der Vorstellung der sibirischen Menschen regelrechte „Schamanen-Territorien“ im Jenseits, die vom einen auf den anderen Schamanen übergingen, und die der Schamane geheim hielt. Sie wurden oft von einem speziellen Schutzgeist bewacht. Dort befand sich häufig eine Art Schutzhütte, in der gefährdete Seelen untergebracht werden konnten. Starb ein Schamane, kehrte seine Seele hierher zurück und wartete, bis sie auf einen neuen Schamanen übergehen konnte. Die Vorstellung derartiger Schamanen-Territorien war weit verbreitet. Manche Schamanen besaßen zwei derartige Territorien, hielten dieses Wissen allerdings streng geheim.
Das Jenseits der schamanischen Kosmologie ist von einer ganzen Reihe unterschiedlich mächtiger Geistmächte mit unterschiedlichen Aufgabenbereichen bevölkert. Sie müssen dem Schamanen genau bekannt sein, damit er seine Aufgaben erfüllen kann.
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