Hominine Fossilien von Dmanissi
älteste außerhalb Afrikas entdeckte Fossilien der engsten Vorfahren des Menschen Aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
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Die homininen Fossilien von Dmanissi sind die ältesten außerhalb Afrikas entdeckten Fossilien aus dem Formenkreis der Hominini, der engsten Vorfahren des Menschen. Ihre Überreste wurden seit 1991 unter Leitung von Dawit Lortkipanidse bei Dmanissi (international: Dmanisi) in Georgien ausgegraben und als Angehörige der Gattung Homo gedeutet. Fundschichten im Liegenden wurden auf ein Alter von nahezu 1,85 Millionen Jahren datiert.[1]
Die homininen Fossilien von Dmanissi gelten als mögliches Bindeglied zwischen den frühesten Vertretern der Gattung Homo aus Afrika und den späteren, aus Asien bekannten Fossilien des Homo erectus. Sie belegen, dass Vertreter der Gattung Homo 300.000 Jahre früher nach Eurasien vordrangen, als zuvor angenommen.
Zunächst blieb jedoch ungeklärt, welcher Art der Gattung Homo die Dmanissi-Funde zuzuordnen sind. Im Jahr 2000 wurden die Fossilien von ihren Entdeckern zunächst in die Nähe von Homo ergaster gestellt. 2002 wurden sie in französischen Fachzeitschriften als Homo georgicus bezeichnet, ab 2006 aufgrund weiterer Knochenfunde in die Nähe von Homo habilis und Homo erectus gestellt.[2][3] 2013 wurde schließlich die Zuschreibung der Funde zu Homo georgicus widerrufen und die Fossilien als lokale Variante einer Unterart von Homo erectus ausgewiesen und – verbunden mit weitreichenden Neuinterpretationen der verwandtschaftlichen Nähe der frühen Homo-Arten – als Homo erectus ergaster georgicus bezeichnet.[4]
Die archäologischen Grabungen auf dem Dmanissi-Plateau im südlichen Georgien (1171 Meter über dem Meeresspiegel gelegen) galten ursprünglich – ab 1983 – einer aufgegebenen mittelalterlichen Stadt. Im Verlauf dieser Grabungen wurde festgestellt, dass unter der Stadt die Überreste weit früherer Ansiedlungen liegen; neben fossilen Säugetierknochen wurden auch Steinwerkzeuge vom sehr ursprünglichen Oldowan-Typ (Mode 1) entdeckt. Bei Grabungen der Georgischen Akademie der Wissenschaften in Zusammenarbeit mit dem Römisch-Germanischen Zentralmuseum entdeckte Antje Justus 1991 unter anderem einen Unterkiefer[5] (Inventarnummer D211; Geodaten der Fundstelle: 41° 20′ 10″ N, 44° 20′ 38″ O[1]). Dieses Fossil wurde im selben Jahr während einer Fachtagung im Forschungsinstitut Senckenberg erstmals öffentlich vorgestellt.[6] Dessen Altersbestimmung (1,8 bis 1,6 Millionen Jahre) und Zugehörigkeit zu Homo erectus blieben allerdings – trotz seiner großen Ähnlichkeit mit dem Unterkiefer des Nariokotome-Jungen – umstritten.[7] Auch ein 1997 entdeckter, gleich alter homininer Fußknochen brachte keine Klärung.
Im Mai 1999 wurde nach starken Regenfällen ein Hirnschädel im Erdreich sichtbar, der mutmaßlich einem jungen Erwachsenen gehört hatte (Inventarnummer D2280) und möglicherweise durch stumpfe Gewalt verletzt worden war.[8] Begleitfunde von Zähnen der fossilen Nager-Gattung Mimomys bezeugen ein Alter von 1,6 bis 2,0 Millionen Jahren,[9] und mit Hilfe der Argon-Argon-Methode konnten die fossilienführenden Erdschichten sicher auf 1,8 bis 2,0 Millionen Jahre datiert werden; andere Datierungsmethoden wiesen auf ein Alter von 1,77 Millionen Jahren hin.[10]
In den folgenden Jahren wurden aus derselben Bodenschicht insgesamt fünf gut erhaltene Schädel, davon vier mit zugehörigem Unterkiefer, sowie weitere hominine Knochen geborgen und wissenschaftlich beschrieben, darunter der besonders gut erhaltene „Schädel 3“ (D 2700, siehe Abbildung). Der 2005 entdeckte, gleichfalls ungewöhnlich gut[11] erhaltene „Schädel 5“ (Sammlungsnummer: D 4500 mit zugehörigem, seit dem Jahr 2000 bekannten Unterkiefer D 2600[12]) wurde erst 2013 ausführlich beschrieben; seine bei keinem zuvor bekannten Homo-Fossil gesehenen Besonderheiten – insbesondere das kleine Schädelinnenvolumen von nur rund 450 cm³ in Kombination mit einer weit vorspringenden, also ausgeprägt prognathen Schnauze und großen Zähnen – veranlassten die Autoren der Studie, die bis dahin getroffenen Abgrenzungen der Arten Homo ergaster und Homo erectus sowie Homo rudolfensis und Homo habilis infrage zu stellen.[4]
Die besondere Bedeutung der Dmanissi-Funde besteht vor allem darin, dass auf einer Fläche von knapp 20 × 20 Metern mindestens sieben Individuen unterschiedlichen Alters aus derselben Epoche gefunden wurden, die Aussagen zur inter-individuellen Variabilität dieser Homo-Population ermöglichen. Die Gründe, warum diese Individuen gleichzeitig oder nahezu gleichzeitig zu Tode kamen, wurden bisher nicht zweifelsfrei rekonstruiert. Im Februar 2008 publizierten französische Forscher allerdings nach der Untersuchung von 30 Bodenproben die Vermutung, es habe sich möglicherweise um eine Familie gehandelt, die von einem Vulkanausbruch überrascht und unter einer Ascheschicht begraben wurde; als Alter der Skelette wurden nunmehr 1,81 ± 0,05 Mio. Jahre genannt.[13]
Im September 2022 gab das nationale Forschungszentrum für Archäologie und Frühgeschichte von Georgien bekannt, unweit Dmanissi, in der Nähe des Dorfes Orozmani, sei ein Zahn entdeckt worden, dem vorläufigen Studien zufolge ein Alter von 1,8 Millionen Jahre zugeschrieben wurde und der vermutlich ein Verwandter der Dmanissi-Funde sei.[14]
In der ersten Fundbeschreibung von 1995 wurde der 1991 entdeckte Unterkiefer D211 aufgrund seiner Altersdatierung – 1,8 bis 1,6 Millionen Jahre – sowie der Übereinstimmung mehrerer Merkmale mit vergleichbar alten afrikanischen und asiatischen Fossilfunden Homo erectus zugeordnet[15], 1998 wurde ihm eine Nähe zu Homo ergaster [„Homo sp. indet. (aff. ergaster)“] zugeschrieben.[16] Da bis dahin kein Forscher mit einem derart frühen Auftreten von Vertretern der Gattung Homo in Eurasien gerechnet hatte, wurde die Datierung weithin angezweifelt; manchen Forschern erschien die Form des Kiefers zu „modern“ für einen derart alten Homo erectus, so dass sie vermuteten, der Unterkiefer sei erst sehr viel später – lange nach dem Tod des Individuums – in die alten Bodenschichten geraten.
Klarheit brachten erst die beiden 1999 entdeckten, gut erhaltenen Schädel, die in zwei Metern Entfernung zu D211 ausgegraben und zweifelsfrei auf zirka 1,7 bis 1,8 Millionen Jahre datiert werden konnten. Der eine, mutmaßlich einem erwachsenen Mann gehörende Schädel D 2280 wies nur ein Schädelinnenvolumen von 775 cm³ auf; bei ihm waren auch Teile des Gesichtsschädels und des Oberkiefers mitsamt vier Zähnen erhalten geblieben. Der zweite, aus der gleichen Bodenschicht geborgene Schädel D 2282 gehörte mutmaßlich einer jugendlichen Frau und wies nur ein Volumen von 650 cm³ auf (zum Vergleich: heutige erwachsene Männer verfügen über ein Volumen von etwa 1500 cm³). Diverse andere Merkmale der Schädel wurden als übereinstimmend mit den aus Afrika bekannten Funden von Homo ergaster erkannt. „Überraschend“ sei die geringe Übereinstimmung der durchgehend als „Dmanisi-hominids“ bezeichneten Funde mit späteren europäischen und asiatischen Homo-Funden.[17]
Noch weniger Ähnlichkeit mit den späteren Vertretern der Gattung Homo hatten zwei weitere Funde, die 2001 entdeckt wurden: der „Schädel 3“ D 2700 und der ein Meter davon entfernt entdeckte Unterkiefer D 2735; beide Fossilien wurden in knapp 15 Metern Entfernung von den bereits bekannten Schädelfunden ausgegraben.[18] Das Gehirnvolumen von nur ungefähr 600 cm³ war wesentlich kleiner als das aller zuvor bekannten Vertreter von Homo erectus, es entsprach vielmehr dem Mittelwert von Homo habilis, so dass unter anderem Tim White darauf hinwies, die Dmanissi-Funde seien womöglich eine neuerliche Stütze für die ältere und als überholt geltende Theorie, Homo habilis habe sich erst außerhalb Afrikas zur asiatischen Variante des Homo erectus entwickelt.[19] Neben dem kleinen, entwicklungsgeschichtlich also „primitiven“ Gehirn erwiesen sich auch die Eckzähne und der Gesichtsschädel als „ursprünglich“. In der wissenschaftlichen Beschreibung der Dmanissi-Funde erläuterten die Autoren im Juli 2002 in Science, dass man die neuen Funde zwar – wie zuvor – als „Repräsentanten von Homo ergaster mit extrem kleinem Gehirn“ deuten könne, aber auch als „die bislang primitivsten Individuen, die Homo erectus zugeordnet“ wurden. Allerdings könne man auch argumentieren, „dass diese Population nahe verwandt mit Homo habilis“ sei, wie man diesen aufgrund von Funden in Tansania (Olduvai-Schlucht) und Kenia (Koobi Fora) kenne. Gemäß den Autoren weisen die Funde zudem einige anatomische Merkmale auf, „die ein gewisses Maß an Isolation von verwandten Gruppen in Afrika und dem Fernen Osten aufzeigen“. Besonders der bis dahin noch nicht beschriebene Unterkiefer D2600, der im September 2000 ausgegraben worden war, weiche von den bekannten Varianten des Homo ergaster / Homo erectus stark ab. 2014 wurde eine genaue Analyse der Zähne dieses Unterkiefers nachgereicht, in der berichtet wurde, dass alle Zähne extrem stark abgenutzt sind, was auf den Verzehr einer sehr harten und daher den Zahnschmelz weitgehend abreibenden Pflanzenkost schließen lasse, wie sie von Schimpansen und Gorillas bekannt ist, nicht aber von vergleichbar alten Funden der Gattung Homo.[20] Zudem weisen die Zahnwurzeln Anzeichen für Entzündungen auf.
Zwei Monate später, im September 2002, wurde diese Andeutung einer „Isolation von verwandten Gruppen in Afrika und dem Fernen Osten“ in einer Zeitschrift der Académie des sciences von den Doyens der georgischen Paläoanthropologie, Léo Gabounia und Abesalom Vekua, zur Erstbeschreibung der neuen Art Homo georgicus ausgebaut; als Holotypus wurde der Unterkiefer D2600 benannt.[21] Die nunmehr auf ein Alter von 1,81 ± 0,05 Millionen Jahre datierten Fossilien wurden in die Nähe von Homo habilis gestellt, und es wurde postuliert, sie seien die Basisgruppe aller späteren Vertreter von Homo erectus in Europa und Asien.[22]
2006 wurde diese Zuordnung, wiederum in einer französischen Fachzeitschrift, bekräftigt, wobei auf fünf Schädel, vier Unterkiefer und zahlreiche weitere Knochenfragmente Bezug genommen wurde. Auch wurde das Alter beim Eintritt des Todes erstmals genannt: ein ca. 13- bis 14-jähriges Mädchen („Schädel 3“), eine 18- bis 20-jährige Frau („Schädel 2“), zwei männliche Erwachsene von ca. 25 bis 30 und 40 Jahren („Schädel 1“ und „Schädel 5“) sowie ein zahnloser Greis („Schädel 4“).[23]
Dieser Publikation zufolge sind die Dmanissi-Schädel nicht nur klein, sondern auch relativ kurz und schmal. Das Stirnbein sei weniger stark entwickelt als bei Homo erectus und weise eine merkliche Verengung hinter den Augenöffnungen auf. Die Schädeldächer seien flacher als bei Homo erectus und Homo ergaster, jedoch höher als bei Homo habilis; am ehesten vergleichbar seien sie mit Homo rudolfensis. Bezüglich der Höhe und der transversalen Entwicklung des Schädel-Mittelteils (in der Parietotemporalregion) liegen die Dmanissi-Exemplare zwischen Homo habilis und Homo ergaster. Auch das Hohlvolumen des Schädels liege zwischen diesen beiden Homo-Arten. Das Schläfenbein sei lang und flach, die Pars mastoidea kurz. Der obere Teil des Hinterhauptbeins sei niedrig und schmal, die Schädelkämme dünn und weniger stark entwickelt als in der Homo-erectus-Gruppe. Die oberen Temporalkämme liegen an hoher Stelle, und ein Torus angularis sei bei jenem Exemplar, das als männlicher Erwachsener gedeutet wurde, vorhanden. Die Grazilität des Gesichts, die Schmalheit des Hinterhauptbeins und das Muster ihrer Schädelbasis unterscheiden der Studie zufolge die Dmanissi-Schädel von Homo erectus.
Die orthognathe Orientierung des Gesichts unterscheide die Exemplare von Dmanissi von frühpleistozänen Homininen (Homo habilis und Homo ergaster) sowie von den ersten eurasischen Homo-erectus-Funden; jedoch sei die subnasale Region des Gesichts noch vorspringend. Die Morphologie des mittleren Gesichtsteils, mit ausgeprägtem Stirnnasenpfeiler (zwischen den Augenhöhlen und der Nasenöffnung), einer inframalaren Einkrümmung des Jochbeins und einer vorne gelegenen Wurzel des zygomatico-maxillaren Kamms deuten eine starke Kaubelastung an.
Die Knochen im Bereich der Schultergelenkspfanne sind groß und scharfkantig.
In Abwägung der Schädelmerkmale und Schädelabmessungen sowie der weiteren Knochenfunde liegen die Dmanissi-Schädel der Publikation zufolge im Übergang zwischen der älteren Homo-habilis- / Homo-rudolfensis-Gruppe und dem jüngeren Homo ergaster, wobei sie der älteren (besonders dem Homo rudolfensis-Fund ER 1470) anatomisch näher stehen. Da die Dmanissi-Schädel jedoch auch anhand vieler Merkmale von Homo rudolfensis unterscheidbar seien, wurden sie trotz der ihnen zugewiesenen taxonomischen Nähe zu dieser Art zur neuen Art Homo georgicus gestellt.
Rückschlüsse auf das Sozialverhalten der Dmanissi-Menschen erlaubte der 2005 in Nature beschriebene Fund eines weiteren, sehr gut erhaltenen Schädels und Unterkiefers, dessen Besitzer Jahre vor seinem Tod alle Zähne bis auf einen verloren hatte. Zahlreiche Begleitfunde (Steinwerkzeuge und Knochen mit Einkerbungen von Steinwerkzeugen) sowie die klimatischen Bedingungen vor 1,8 Millionen Jahren wurden dahingehend gedeutet, dass die Dmanissi-Menschen sich – zumindest im Winter – überwiegend von Fleisch ernährt haben. Die Zahnfächer dieses ältesten, zahnlosen homininen Schädels lassen daher den Schluss zu, dass das Individuum – obwohl es grobe Nahrungsmittel nicht mehr zerkauen konnte – mit stark zerkleinerten Nahrungsmitteln versorgt und trotz seiner Behinderung sozial integriert gewesen sein muss.[24][25]
2004 ergab eine statistische Analyse des Schädel-Innenvolumens, dass die bis dahin bekannten Funde trotz sehr unterschiedlicher Volumina einer einzigen Art zugeschrieben werden können.[26]
Bemerkenswert ist im Zusammenhang mit der Namensgebung, dass Dawit Lortkipanidse, der schon 1991 als Grabungsleiter am Fund des ersten Unterkiefers beteiligt war, zwar Co-Autor der Zuordnung aller Dmanissi-Funde zur Art Homo georgicus war. In den von ihm als Hauptautor in Nature veröffentlichten Fundbeschreibungen verwendete er jedoch diesen von seinem früheren Vorgesetzten Léo Gabounia gewählten Artnamen nicht,[27][28] sondern umschrieb 2007 die Funde beispielsweise als „Dmanisi hominins“, die „weitgehend mit dem frühesten Homo (das ist Homo habilis) vergleichbar“ seien. Zudem waren die Schädel bereits 2006 in einer ausführlichen Studie so bezeichnet, anhand ihrer anatomischen Merkmale zwischen Homo habilis und Homo erectus platziert und zurückhaltend an die Basis jener Homo-Population gestellt worden, „aus der Homo erectus evolvierte.“[2][29]
Tatsächlich hatte sich die Absonderung der Dmanissi-Funde zur Art Homo georgicus – außerhalb des französischsprachigen Schrifttums – in der Fachwissenschaft nicht etablieren können. So merkte Winfried Henke in einem Übersichtsartikel zu „Ursprung und Verbreitung des Genus Homo“ an, der von Vekua und Gabunia propagierte Artstatus sei vorläufig.[30] Vorbehalte gegen die Festlegung einer neuen Art bestanden hauptsächlich, weil unklar blieb, ob sie im Sinne einer Chronospezies, einer Morphospezies oder gar einer Biospezies definiert wurde. Lortkipanidse selbst bezeichnete den Artnamen zurückhaltend als „a proposal“ (ein Vorschlag), dessen Tragfähigkeit sich erst anhand weiterer Funde erweisen werde.[31]
2007 veröffentlichte Lordkipanidse in Nature die Beschreibung von mehr als 30 Knochen und Knochenfragmenten aus dem Bereich des Schultergürtels, der Wirbelsäule, der Oberarme, der Oberschenkel und der Unterschenkel, die man zwischen 2003 und 2005 in Dmanissi geborgen hatte. Einige dieser postkranialen Funde konnten den bereits bekannten Schädeln zugeordnet werden[32] und gaben erstmals Aufschluss über das mutmaßliche äußere Erscheinungsbild der Dmanissi-Menschen. Aufgrund dieser Fossilien wurde ihr Körpergewicht auf 40 bis 50 kg, die Körpergröße auf etwa 145 bis 166 cm und das Hirnvolumen auf knapp die Hälfte des modernen Menschen geschätzt. Selbst im Vergleich zu ihrer geringen Körpergröße war ihr Gehirn so klein wie das der allerersten Vertreter der Gattung Homo aus Afrika und deutlich kleiner als das Gehirn der bis dahin bekannten Funde von Homo erectus. Aufgrund einiger afrikanischer Homo-erectus-Funde – unter anderem nach der Entdeckung des so genannten Nariokotome-Jungen – hatten die Paläoanthropologen vermutet, dass die ersten außer-afrikanischen Vertreter der Gattung Homo wesentlich größer gewesen seien.
Hingegen besaßen die Dmanissi-Menschen bereits ähnliche Körperproportionen wie die modernen Menschen: Ihre Beine waren wesentlich länger als ihre Arme, und ihre Oberschenkel waren länger als ihre Oberarme. Aufgefundene Fußknochen wurden dahingehend gedeutet, dass sie dank eines Fußgewölbes zu einem federnden, zweibeinigen Gang befähigt und gute Läufer waren.[33] Die Anatomie von Schultern und Armen unterschied sich hingegen vom modernen Menschen: Beispielsweise wiesen Unterarme und Hände in Ruhestellung – bei herunterhängenden Oberarmen – nicht zum Körper, sondern nach vorn.[34] Der Bau ihrer Arme erleichterte ihnen vermutlich noch das Klettern in Bäumen.
In einer im Oktober 2013 in Science publizierten Studie widerriefen die Erforscher der homininen Dmanissi-Fossilien schließlich die Zuschreibung der Funde zu Homo georgicus, indem sie die Ausweisung des Unterkiefers D2600 als Holotypus der Art formell zurückzogen.[4]
Hierzu sahen sie sich insbesondere aufgrund der Merkmale von „Schädel 5“ (Sammlungsnummer D 4500 mit zugehörigen Unterkiefer D 2600) veranlasst,[35] der einerseits typische Merkmale der Gattung Homo aufweise; andererseits habe „Schädel 5“ mit 450 cm³ nur ein sehr kleines Schädelinnenvolumen, aber eine stark ausgeprägte Schnauze und große Zähne – eine Kombination, die bis dahin von keinem Homo-Fossil bekannt gewesen sei, auch nicht von den anderen Schädelfunden aus Dmanissi. Aus der Zusammenschau aller fünf Schädelfunde leiteten die Forscher um David Lordkipanidze daher nunmehr ab, dass die frühen Vertreter der Gattung Homo offenbar eine sehr große, bislang nicht gekannte, inter-individuelle phänotypische Variabilität besaßen, vergleichbar mit der Variabilität bei den heute lebenden Menschen und bei den heute lebenden Schimpansen. Die durch die Dmanissi-Fossilien belegte Variabilität sei so groß, hieß es in der Studie, dass sowohl die Merkmale der vergleichbar alten Fossilfunde aus Afrika als auch aus Asien die Grenzen dieser Variabilität nicht überschreiten; wörtlich schrieben die Forscher:
Weitergehend schlugen die Forscher vor, die Nomenklatur zu präzisieren: Die von anderen Forschern als Homo ergaster von Homo erectus abgetrennten afrikanischen Fossilien seien vor dem Hintergrund der Dmanissi-Funde als Homo erectus ergaster – das heißt als frühe Unterart – mit Homo erectus erectus wieder zusammenzuführen. Die homininen Fossilien aus Dmanissi wurden in diesem Zusammenhang verbindlich (formally) als Homo erectus ergaster georgicus ausgewiesen, verbunden mit dem Hinweis, die Anfügung georgicus verweise auf die Herkunft der lokalen georgischen Abstammungsgruppe. Zudem könne die neue Sicht auf die Variabilität der Gestalt von Homo erectus auch Auswirkungen auf die Abgrenzung von Homo habilis und Homo rudolfensis von Homo erectus haben: Möglicherweise sei es angemessen, auch jene Fossilien der Abstammungsgruppe erectus zuzuordnen, die bislang diesen beiden Arten zugeschrieben wurden.[37][38]
Auch gegen die Benennung Homo erectus ergaster georgicus gab es Widerspruch; der Bau der Zähne, der Unterkiefer und der Schädel lege „taxonomische Vielfalt“ nahe, und das spreche insbesondere für die Gültigkeit des bisherigen Namens Homo georgicus.[39] Zudem weichen die morphologischen Merkmale von Schädel 5 laut Ian Tattersall so stark von den Merkmalen der anderen vier Schädel ab, dass man die Funde – wären sie an unterschiedlichen Orten geborgen worden – zwei Arten zuordnen würde. Darüber hinaus gebe es zwischen den Dmanissi-Funden und dem Typusexemplar von Homo erectus, dem Schädeldach Trinil 2 aus Java, keine nachvollziehbaren abgeleiteten Merkmale, so dass die Zuordnung zu dieser Art taxonomisch unbegründet und nur dem Umstand geschuldet sei, dass die Funde aus Dmanissi ähnlich alt seien wie die Funde aus Java.[40]
Die homininen Fossilien von Dmanissi widerlegen die zuvor aus afrikanischen Vormenschen-Funden abgeleitete, in der Paläoanthropologie allgemein akzeptierte Annahme, die ersten aus Afrika ausgewanderten Menschen hätten ein Hirnvolumen von mindestens 1000 cm³ besessen, seien etwa 170 cm groß gewesen und hätten über fortgeschrittene kulturelle Techniken verfügt.[41] Die von Bernard Wood als Übergangsform (transitional form)[42] bezeichnete Kombination von „anatomisch ursprünglichen“ und „anatomisch modernen“ Merkmalen (sehr kleines Gehirn, auf Menschenaffen verweisende Schultern und Arme, aber von Homo sapiens kaum unterscheidbare Beine) belegen erstmals in einem einheitlichen Fund-Zusammenhang die Abfolge der evolutiven Prozesse von den archaischen Vertretern der Gattung Homo hin zum modernen Menschen. Während eines Besuchs im Forschungsinstitut Senckenberg wies der Entdecker der Fossilien, Dawit Lortkipanidse, im November 2007 zudem auf verblüffende Ähnlichkeiten der Dmanissi-Funde mit Homo floresiensis hin.[43]
Erstmals bei derart alten Menschen-Fossilien können zudem Aussagen über die Variationsbreite der anatomischen Merkmale in einer Population getroffen werden,[44][45] was zu einer Neubewertung der Abgrenzung von Arten führen könnte, die – wie Homo erectus und Homo habilis – häufig nur anhand eines einzigen Unterkiefers definiert wurden.[4] Infrage gestellt wurde unter Verweis auf die Dmanissi-Fossilien auch die Annahme, Homo erectus habe sich in Afrika aus Homo habilis entwickelt;[46] möglicherweise entwickelte sich Homo erectus erst nördlich der Levante, und Teile der Population wanderten später wieder zurück nach Afrika, andere in Richtung Asien und Europa.[1][47]
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