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Römische Militäroperationen gegen germanische Stämme Aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Die Germanicus-Feldzüge waren römische Militäroperationen der Jahre 14 bis 16 n. Chr. gegen eine Koalition rechtsrheinischer germanischer Stämme. Benannt sind die Feldzüge nach Nero Claudius Germanicus (* 15 v. Chr.; † 19 n. Chr.), einem Großneffen des Augustus. Hauptgegner waren die Cherusker unter der Führung des Arminius (* um 17 v. Chr.; † um 21 n. Chr.).
Germanicus-Feldzüge | |||||||||||||||||
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Teil von: Augusteische Germanenkriege 12 v. Chr. bis 16 n. Chr. | |||||||||||||||||
Büste von Nero Claudius Germanicus | |||||||||||||||||
Datum | 14 bis 16 n. Chr. | ||||||||||||||||
Ort | Nördliches Germanien zwischen Rhein und Weser-Leine-Region | ||||||||||||||||
Ausgang | Erfolgreicher militärischer Widerstand der Germanen gegen römische Unterwerfungsversuche; Rückzug der Römer auf die Rheingrenze | ||||||||||||||||
Folgen | Ende der augusteischen Germanenkriege; faktischer römischer Verzicht auf die Beherrschung des rechtsrheinischen Germaniens | ||||||||||||||||
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Die Offensiven gelten als Höhe- und Endpunkt der Augusteischen Germanenkriege, die im Jahr 12 v. Chr. von Nero Claudius Drusus, dem Vater des Germanicus, begonnen worden waren. Die Offensiven wurden mit gewaltigem Aufwand betrieben – Germanicus kommandierte das mit acht Legionen größte römische Heer der damaligen Zeit. Den Feldzügen vorausgegangen waren die vernichtende Niederlage des römischen Statthalters Varus (Schlacht im Teutoburger Wald 9 n. Chr.) und der Verlust fast aller römischen Positionen rechts des Rheins. Wesentliche Kriegsziele waren deshalb die Wiederherstellung der römischen Oberhoheit in Germanien und die Bestrafung der Aufständischen.
Die Militäraktionen begannen im Herbst 14 n. Chr. mit einem Überfall auf den Stamm der Marser. Als militärischer Höhepunkt der Feldzüge gelten eine Flottenlandung mit 1.000 Schiffen in der Mündung der Ems im Sommer 16 n. Chr. sowie die anschließende Schlacht von Idistaviso, die größte Schlacht der augusteischen Germanenkriege. Nach schweren römischen Verlusten endeten die Kämpfe im Herbst 16 n. Chr. gegen den Willen des Germanicus auf energische Weisung des Kaisers Tiberius (14 bis 37 n. Chr.) hin. Die römische Propaganda münzte die Einstellung der Kämpfe zu einem Sieg um, Germanicus hielt einen glänzenden Triumphzug ab.
Das Ergebnis der Germanicus-Feldzüge war der faktische Verzicht der Römer auf die militärische Kontrolle Germaniens und der Rückzug der Legionen auf die Rheinlinie. Arminius galt deshalb dem römischen Geschichtsschreiber Tacitus, der Hauptquelle zu den Germanicus-Feldzügen, als „Befreier Germaniens“ (liberator Germaniae).
Die antiken Autoren gingen auf die Feldzüge des Germanicus kaum ein und berichteten allenfalls über den Triumphzug des Germanicus im Jahre 17 n. Chr., zum Beispiel Cassius Dio[1] oder Strabon.[2] Die Feldzüge galten als nicht erinnerungswürdig, da sie – entgegen dem Bild, das die Siegpropaganda zu vermitteln versuchte – erfolglos waren.[3] Auch Publius Cornelius Tacitus (* um 58 n. Chr.; † um 120) war sich der Vergeblichkeit der Germanicus-Feldzüge bewusst.[4] Dennoch widmete er weite Teile der ersten beiden Bücher seiner Annalen diesen Feldzügen und hinterließ damit eine der eingehendsten Beschreibungen antiker Kriegszüge überhaupt.[5]
Die Annalen beschreiben die römische Geschichte ab dem Tod des Augustus (19. August 14 n. Chr.) und dem Herrschaftsantritt des Tiberius. Entstanden ist dieses literarisch herausragende Spätwerk des Tacitus rund 100 Jahre nach den Geschehnissen. Die Quellen, die Tacitus für die Anfertigung der Germanicus-Passagen nutzte, sind heute verloren. Vermutlich verfügte er über die 20 Bücher umfassende Schrift Bella Germaniae („Germanenkriege“) Plinius des Älteren, der Mitte des 1. Jahrhunderts als Offizier in Germanien gedient hatte. Auch die Libri belli Germanici („Bücher des germanischen Krieges“) des Zeitzeugen Aufidius Bassus dürften eingeflossen sein. Daneben wertete Tacitus Senatsakten und andere offizielle Quellen aus. Tacitus war allgemein gut informiert. Möglicherweise lebte er auch eine Zeitlang in Köln[6] und kannte die römisch-germanische Grenzregion aus eigener Anschauung.
Die ersten sechs Bücher der Annalen sind durch eine mittelalterliche Abschrift aus dem Kloster Fulda, den Codex Medicaeus I = Codex Laurentianus 68,1, überliefert. Der Codex wurde sorgfältig angefertigt und dürfte seine Vorlage getreu wiedergeben.[7] Die Annalen gelten insgesamt als zuverlässige Quelle.[8] Die 1981 in Spanien aufgefundene Tabula Siarensis – eine Gedenktafel aus Bronze, die im Jahr 19 n. Chr. zu Ehren des in diesem Jahr verstorbenen Germanicus angefertigt wurde und eine Aufzählung seiner Verdienste enthält – bestätigt die Berichterstattung zum Triumphzug 17 n. Chr. und belegt in wichtigen Punkten die geradezu dokumentarische Arbeitsweise des Tacitus.[9]
Tacitus schuf keinen Kriegsbericht und keine Nachzeichnung römischer Kriegszüge, wie sie zum Beispiel bei Cäsars De bello Gallico (Gallischer Krieg) im Vordergrund standen. Es ging ihm vielmehr darum, in gewaltigen Bildern und dramatischen Handlungen Menschen mit ihren Gefühlen und in ihren Schicksalen zu zeichnen.[10] Er lieferte nicht alle Informationen, die zum Verständnis des Kriegsverlaufes notwendig sind, und setzte beim Leser eine weitgehende Kenntnis der Zusammenhänge voraus.[11] Überdies verhindert eine enorme literarische Verdichtung des Textes oft volle Sicherheit im Verständnis der Stelle.[12] Deshalb bereitet die Deutung der Militäroperationen Schwierigkeiten. Die Darstellung des Feldzugs im Sommer 16 n. Chr. gehört zu den meistdiskutierten Passagen der Annalen.[5]
Den innenpolitischen roten Faden der Schilderung bilden die wachsenden Spannungen zwischen dem populären Germanicus und dem unbeliebten Imperator Tiberius.[5] Die Sympathien des Tacitus gehören unübersehbar dem „jungen ‚Helden‘“.[6] Dennoch wird Germanicus nicht einseitig verherrlicht. Auch lässt Tacitus den Tiberius ausführlich zu Wort kommen. Der Geschichtsschreiber muss die Argumentationen des Tiberius für vernünftig gehalten haben – „Tacitus’ Kopf [neigte] zu Tiberius und sein Herz zu Germanicus“, wie der Althistoriker Dieter Timpe urteilt.[13]
Beeinflusst war Tacitus von der Historiographie der claudischen Zeit (41–54 n. Chr.). Kaiser Claudius war der Bruder des Germanicus, entsprechend günstig fiel das Urteil der claudischen Geschichtsschreiber aus, unter ihnen Plinius d. Ä. Überdies gab es Parallelen zum Leben des von Tacitus verehrten Gnaeus Iulius Agricola. Agricola war römischer Statthalter in Britannien (77–84 n. Chr.) und Schwiegervater des Tacitus. Er hatte unter Domitian Ähnliches zu durchleiden wie Germanicus unter Tiberius.[13]
Germanische Verbände unter der Führung des Cheruskerfürsten Arminius hatten die drei Legionen XVII, XVIII und XIX des Publius Quinctilius Varus im Herbst des Jahres 9 n. Chr. am Saltus Teutoburgensis (Teutoburger Wald) vernichtend geschlagen. Drei der fünf am Rhein stationierten Legionen waren untergegangen. Unverzüglich entsandte der römische Kaiser Augustus seinen Adoptivsohn, den krisenbewährten Tiberius über die Alpen, um die Lage zu stabilisieren. Befürchtungen, die Germanen könnten die Gunst der Stunde nutzen, um in Gallien oder gar in Italien einzufallen, erwiesen sich als unbegründet.
Im Jahr 10 n. Chr. wurden die beiden verbliebenen Legionen durch sechs weitere, deren Kampfwert allerdings zunächst zweifelhaft war, ergänzt.[14] Am Niederrhein standen nunmehr die Legionen I (Germanica), V (Alaudae), XX (Valeria Victrix) und XXI (Rapax), am Oberrhein II (Augusta), XIII (Gemina), XIV (Gemina) und XVI (Gallica).[15] Es ist ungewiss, ob die Legionen I und V diejenigen waren, die der Katastrophe im Vorjahr hatten entgehen können, oder die XIII und XIV.[16]
Auch die Auxilien wurden beträchtlich verstärkt. Tacitus berichtet für das Jahr 14 n. Chr. von 26 Kohorten und acht Alen.[17] Insgesamt dürfte die Heeresstärke am Rhein ab dem Jahr 10 n. Chr. bei rund 80.000 Mann gelegen haben.[18] Darüber hinaus stellten verbündete Stämme im Kriegsfall Kriegerverbände in unbekannter Größe.
Für die Jahre 11 und 12 n. Chr. sind Militäroperationen mit zunehmender Vorstoßtiefe überliefert. Die Legionäre bauten rechtsrheinische Stützpunkte wieder auf, legten limites (breite Wegschneisen) an und schufen einen menschenleeren Streifen östlich des Rheins. Flottenoperationen auf der Nordsee sicherten die Loyalität der Küstenstämme.
Tiberius ging äußerst umsichtig zu Werke: Er hörte auf die Vorschläge eines Kriegsrates, wie Sueton berichtet,[19] und kontrollierte persönlich die Ladung der Trosse – nichts Überflüssiges sollte die Marschkolonnen belasten. Der Nachlässigkeiten eines Varus wollte sich der Feldherr keinesfalls schuldig machen. Im Feld führte Tiberius ein spartanisches Leben, gab alle Befehle schriftlich, bestand auf strengster Disziplin und reaktivierte alte Strafen.[20] Der Feldherr verzichtete auf riskante Unternehmungen, respektierte Machbarkeitsgrenzen und hielt sich konsequent an das, was Caesar als „Regel und Gewohnheit des römischen Heeres“ (ratio et consuetudo exercitus Romani)[21] beschrieben hatte.[22]
Im Jahr 12 n. Chr. entging Tiberius dem Mordanschlag eines Brukterers. Der Attentäter hatte sich in die Umgebung des Feldherren eingeschlichen, entlarvte sich jedoch durch sein Verhalten.[23] Im Herbst reiste Tiberius nach Rom und feierte seinen Illyrien-Triumph, der im Jahr 9 n. Chr. hatte verschoben werden müssen. Der Abschied aus Germanien sollte endgültig sein. Tiberius blieb als designierter Nachfolger des Augustus an der Seite des 75-Jährigen. Den Oberbefehl (imperium proconsulare) über das größte römische Heer jener Zeit übertrug Augustus dem knapp dreißigjährigen Germanicus.
Germanicus war der Sohn des Nero Claudius Drusus (* 38 v. Chr.; † 9 v. Chr.), der im Jahr 12 v. Chr. mit den Drusus-Feldzügen die augusteischen Germanenkriege eingeläutet hatte und kurz nach der Erreichung der Elbe tödlich verunglückt war. Überdies war er der Enkel des Augustus (durch Adoption des Vaters) sowie der Neffe des Tiberius und dessen Adoptivsohn. Den Namen „Germanicus“ trug er seit dem Knabenalter, nachdem Augustus diesen erblichen Ehrennahmen dem Vater posthum verliehen hatte. Nach dem Willen des Augustus sollte Germanicus später dem Tiberius als Imperator nachfolgen.
Erste militärische Erfahrungen hatte Germanicus im pannonischen Aufstand (6 bis 9 n. Chr.) sammeln können. Im Jahr 9 n. Chr. begleitete er Tiberius nach Germanien und erhielt von diesem eine militärische „Nachschulung“.[24] Ende des Jahres 12, spätestens Anfang 13 n. Chr. ging die Kommandogewalt auf Germanicus über. Vorstöße über den Rhein in diesem Jahr sind wahrscheinlich, aber nicht belegt.[25] Für das Jahr 14 n. Chr. waren offenbar keine Militäroperationen vorgesehen, denn Germanicus begab sich nach Gallien, um Steuererhebungen einzuleiten. Ob diese der Kriegsvorbereitung dienten, muss offen bleiben.[26]
Die Einsetzung des Germanicus als Oberbefehlshaber am Rhein durch Augustus hatte „programmatischen Charakter“:[27] Der Name „Germanicus“ und die Ansprüche, die hinter diesem standen; die Erwartungen der rheinischen Legionen, die das Andenken an Drusus in höchsten Ehren hielten und vom Sohn ähnliche Feldherrenleistungen erhofften;[28] das Vorbild Alexanders des Großen, in dessen Tradition sich Germanicus ebenso wie sein Vater gesehen zu haben scheint;[29] der Oberbefehl über das gewaltigste Heer jener Zeit; das Land, dessen Stämme der Vater bekriegt hatte und das nun am anderen Ufer des Rheins lag – all dies forderte von Germanicus geradezu, „in die Fußstapfen seines Vaters zu treten“ und unterstreicht den Willen des Auftraggebers Augustus, die römische Herrschaft zwischen Rhein und Elbe wiederherzustellen.[27]
Am 19. August 14 n. Chr. starb Augustus, Tiberius trat die Nachfolge an. Die Legionen am Rhein sahen ihre Gelegenheit gekommen, ein Ende von überlangen Dienstzeiten, niedrigem Sold, überharter Disziplin, Vorgesetztenwillkür und Schikanen zu erzwingen. Eine Meuterei brach aus, die Lage eskalierte, verhasste Zenturionen wurden ermordet. Dem populären Germanicus trugen die Aufrührer die Führung des Imperiums an; mit Hilfe der Legionen sollte er den unbeliebten Tiberius vom Thron stürzen. Germanicus und seine Legaten (Kommandeure) blieben loyal, agierten jedoch zunächst wenig glücklich; die Evakuierung der Familie des Germanicus scheiterte. Schließlich gelang es, die Legionen zu beruhigen. Die Rädelsführer wurden getötet, zum Teil von den Soldaten selbst. Noch im Spätherbst unternahm Germanicus einen Feldzug gegen die Marser. Die Kampagne wurde zum Auftakt der großen Feldzüge, die Germanicus bis in den Herbst 16 n. Chr. unternehmen sollte.
Vorrangiges Kriegsziel des von Augustus beauftragten Germanicus war es, den Zustand vor der Varus-Katastrophe wiederherzustellen – dies umfasste die Wiederaufrichtung der römischen Suprematie westlich des Rheins und die Unterwerfung der aufständischen Stämme,[30] die Sicherung Galliens vor germanischen Überfällen, Vergeltung für die Vernichtung der Varus-Legionen[31] und die Rückgewinnung der drei in der Varusschlacht verlorenen Legionsadler.[32] Überdies musste die Loyalität der Küstenstämme gesichert werden: Friesen und Chauken waren dem Aufstand des Arminius ferngeblieben, doch musste die Herrschaft über diese (und womöglich über weitere kleinere Küstenstämme) zumindest aufrechterhalten, teilweise vielleicht zurückgewonnen werden.[33]
Ob die Erreichung der Elbe ernsthaftes militärisches Ziel des Germanicus war, ist unsicher.[34] Zwar beschwor der junge Feldherr dieses Ziel geradezu.[35] Auch erhielt er seinen Triumphzug unter anderem, weil er über die Stämme zwischen Rhein und Elbe gesiegt habe.[36] Doch die Erreichung der Elbe war militärisch nicht gerechtfertigt. Es ist unklar, wie ein Vorstoß zur Elbe den Krieg zugunsten der Römer hätte beenden können – im Gegenteil, eine Konfrontation mit den elbgermanischen Stämmen hätte den Konflikt erheblich ausgeweitet und wohl auch das mächtige Markomannenreich des Marbod in den Konflikt hineingezogen.[37] Der Historiker Dieter Timpe stellt fest, Tacitus beschreibe die Rolle der Elbe „fast ironisch“; der Fluss erscheine als das „realitätsferne geographische Symbol feldherrlichen Sohnesehrgeizes“.[38] Die Tabula Siarensis erwähnt die Elbe nicht mehr.
Wesentliches Mittel zur Erreichung der Ziele war die Vernichtung der Lebensgrundlagen der Stämme, also der Siedlungskammern, der Äcker und möglichst des Viehbestandes.[39] Damit knüpfte Germanicus an die Taktik an, die bereits Cäsar gegen ausweichende Stämme angewandt hatte: Die Zerstörung der wirtschaftlichen Grundlagen sollte den Stamm zermürben und die Autorität der romfeindlichen Stammesführungen untergraben.[40] Um das Vorfeld der Rheingrenze zu sichern, unternahmen die Römer Verwüstungszüge gegen die rheinnahen Stämme und drängten diese ins Innere Germaniens zurück.[41] Schnelle und überraschende Vorstöße sowie rücksichtslose Härte auch gegenüber den eigenen Truppen waren wesentliche Merkmale der Germanicus-Operationen.[42] Politische Maßnahmen und militärische Operationen zielten darüber hinaus darauf ab, Keile in die Stammeskoalitionen und die Stämme selbst zu treiben. Schließlich spielten auch die Flotte und die Nutzung der Wasserwege eine wichtige Rolle.
Den umfassenden Kriegszielen des Augustus und des Germanicus standen reduzierte Ziele des Tiberius gegenüber. Der erfahrene Feldherr und Germanienkenner setzte auf eine Kontrolle der Stammeswelt durch Diplomatie, Geld und die Ausnutzung der notorischen Adels- und Stammeskonflikte.[43] Doch zunächst musste Tiberius Germanicus gewähren lassen, der sich auf das Mandat des verstorbenen Imperators berufen konnte. In den Worten Boris Dreyers: „Jeder, der hier eine Korrektur vornehmen wollte, hatte keine leichte Aufgabe vor sich, selbst nach dem Tod des vergöttlichten Augustus“.[44] Erst nach zwei Jahren gelang es Tiberius, sich durchzusetzen.
Die römischen Angriffe richteten sich in erster Linie gegen die Stämme, die an der Varusschlacht beteiligt waren.[45] Die Koalition wuchs jedoch im Verlauf der Feldzüge über diesen Kreis hinaus. Laut Tacitus hielt Germanicus im Jahr 17 n. Chr. schließlich „seinen Triumph über die Cherusker, Chatten und Angrivarier sowie die anderen Stämme, die (das Land) bis zur Elbe bewohnen.“[46] Im Triumphzug mitgeführt wurden laut Strabon Gefangene aus unterworfenen Stämmen, „nämlich aus den Kaulken, Ampsanern, Brukterern, Usipetern, Cheruskern, Chatten, Chattuariern, Landern und Tubattiern.“[47] Die Marser gehörten sicherlich ebenfalls zur Arminius-Koalition, auch wenn sie nicht mit aufgezählt sind; ihre Gleichsetzung mit den Landern ist umstritten.[48] Auch nicht genannte Klientelstämme der Bündnispartner dürften zu den Waffen gegriffen haben.[49] Für die cheruskische Klientel käme zum Beispiel der kleine Stamm der Foser in Frage. Darüber hinaus werden einzelne Gefolgschaften unter eigenen Anführern zu Arminius gestoßen sein.[50]
Die Stämme im äußersten Nordwesten Germaniens (Friesen, Bataver und andere) stellten den Römern Hilfstruppen, ihre Beteiligung an der Arminius-Koalition ist auszuschließen. Gleiches gilt für die Chauken, auch wenn diese möglicherweise mit Arminius sympathisierten, wie sich während der Schlacht bei Idistaviso andeuten sollte.[51] Die elbgermanischen Stämme und die Markomannen unter Marbod blieben der Koalition fern.
Unmittelbar nach dem Ende der Meuterei und zu ungewöhnlich später Jahreszeit befahl Germanicus einen Feldzug gegen die Marser, die zwischen dem Caesia silva (Heissiwald bei Essen) und den Läufen von Lippe und Ruhr siedelten.[52] Über die Gründe und Ziele der Militäroperation äußern sich die Quellen unterschiedlich: Laut Cassius Dio fürchtete Germanicus neue Unruhen im Heer und überschritt den Rhein, um die Truppen zu beschäftigen und mit Beute zu versorgen.[53] Tacitus hingegen berichtet, die Soldaten hätten selbst auf den Feldzug gedrängt, um sich zu rehabilitieren.[54] Der Grund für die psychologisierende Sichtweise des Tacitus dürfte in dessen Bestreben gelegen haben, die „Hintergründe der menschlichen Entscheidungen“[55] aufzudecken. Die Forschung gibt der Deutung des Dio insgesamt den Vorzug.[55]
Germanicus ließ eine Schiffsbrücke über den Rhein schlagen und 12.000 Mann aus den vier niederrheinischen Legionen sowie 8 Reiterabteilungen und 26 Kohorten der Bundesgenossen übersetzen.[54] Insgesamt dürfte die Streitmacht um die 30.000 Mann umfasst haben. Die Römer hatten Kunde von anstehenden kultischen Feierlichkeiten bei den Marsern erhalten und näherten sich unbemerkt über abgelegene Pfade. Es gelang, die Feiernden einzuschließen. Vier Angriffskeile richteten ein Gemetzel an, auch Kinder, Frauen und Greise wurden nicht verschont, wie Tacitus berichtet.[56] Die Legionen zerstörten das überregional bedeutende Tamfana-Heiligtum. Dio berichtet von reicher Beute für die Soldaten.[53]
Auf dem Rückmarsch griffen die Usipeter, Brukterer und Tubanten den Heereszug an, vielleicht im Heissiwald bei Essen[15] oder im Bereich der mittleren Ruhr.[57] Germanische Ablenkungsmanöver galten der Vorhut und dem Zentrum der römischen Marschkolonne. Die Hauptmacht attackierte schließlich von bewaldeten Hügeln herab die Nachhut. Die XX. Legion machte kehrt, warf sich auf die Angreifer und stabilisierte die Lage. Ohne weitere Zwischenfälle erreichte das Heer den Rhein.
Am Ende des Jahres war nicht nur die Meuterei der Legionen endgültig beigelegt, sondern die Truppe hatte auch Zutrauen in die Führung des Germanicus gewonnen.[58] Der Feldzug „endete so mit einem klaren Erfolg, an dem Germanicus nicht geringen Anteil hatte.“[59]
Die Meuterei der Legionen bot Arminius eine Gelegenheit zur „Abrechnung mit dem inneren Feind“.[60] Der prorömische Cheruskerfürst Segestes hatte 9 n. Chr. den römischen Statthalter Varus vor den Angriffsplänen des Arminius gewarnt, allerdings vergeblich. Eine zusätzliche persönliche Note bekam die Feindschaft der Fürstenfamilien, als Arminius gegen den Willen des Segestes dessen Tochter Thusnelda ehelichte, obwohl diese einem anderen versprochen war – der „Schwiegersohn war verhasst, die Schwiegereltern verfeindet“, wie Tacitus resümiert.[61] Im Herbst/Winter 14 n. Chr. wollte Arminius offenbar eine Entscheidung erzwingen. Er ging gegen Segestes vor, doch schien dieser zunächst die Oberhand gewonnen zu haben.[62]
Der innercheruskische Machtkampf wiederum blieb dem Germanicus nicht verborgen. Er hoffte auf einen Zerfall der Arminius-Koalition und eine Übernahme der Stammesführung durch romfreundliche Kräfte. Er änderte deshalb seine Feldzügspläne, die eine große Kampagne erst für den Sommer 15 n. Chr. vorgesehen hatten, und griff bereits im Frühjahr an.[63] Ziel waren die Chatten, deren Fürstenhäuser mit denen der Cherusker verwandtschaftlich verbunden waren. Vermutlich hätte eine direkte römische Intervention auf Cheruskergebiet den Stamm gegen die Segestes-Partei aufgebracht.
Im Frühjahr 15 n. Chr. fiel Germanicus mit dem oberrheinischen Heer von Mainz aus bei den Chatten ein. Der Marsch führte vermutlich durch die Wetterau ins heutige Nordhessen. Möglicherweise lag das Römerlager Friedberg auf der Route.[64] Wie schon im vorangegangenen Herbst konnten die Römer das Überraschungsmoment nutzen. Das ungewöhnlich trockene Wetter erlaubte den raschen Vormarsch leichter Truppen ohne besondere Befestigung von Wegen und Flussübergängen. Germanen, die nicht fliehen konnten, wurde gefangen genommen oder niedergemacht. An der Eder versuchte ein chattisches Aufgebot vergeblich, den Römern den Übergang zu verwehren. Ein Teil des Stammes unterwarf sich daraufhin, ein anderer Teil zerstreute sich in die Wälder. Die Römer zerstörten den Hauptort Mattium (nicht sicher lokalisierbar) und verwüsteten die Siedlungsgebiete.
Die Cherusker hatten vor, den Chatten zu Hilfe eilen. Dies unterband jedoch der Legat Aulus Caecina Severus, der mit dem niederrheinischen Heer weiter nördlich in der Lippe-Ems-Region operierte. Die Marser wagten einen Angriff auf Caecina, wurden jedoch „in einer glücklichen Schlacht“ bezwungen.[65]
Auf dem Rückmarsch erreichten Germanicus ungünstige Nachrichten: Segestes war im Machtkampf mit Arminius unterlegen und wurde in seinem befestigten Herrenhof[66] belagert. Es war ihm allerdings zuvor gelungen, die schwangere Thusnelda in seine Gewalt zu bringen. Germanicus, der offenbar noch tief in Germanien stand,[67] machte kehrt und eilte den Eingeschlossenen zu Hilfe. Die Legionen vertrieben die Belagerer und geleiteten Segestes mit seinen Anhängern[68] und Gefangenen an den Rhein. Später im Jahr sollte auch Segimer, der Bruder des Segestes, sich auf ähnliche Weise ins römische Exil begeben.[69] Thusnelda gebar in Gefangenschaft einen Sohn, der den Namen Thumelicus erhielt. Er wurde in Ravenna erzogen und fiel später „dem Gespött zum Opfer“,[70] wie Tacitus überliefert; Einzelheiten hierzu sind in einem Annalen-Buch enthalten, das verloren gegangen ist.
Unterdessen war es Arminius gelungen, seine Streitmacht zu vergrößern. Den Cheruskerfürsten Inguiomerus, einen Onkel des Arminius und bislang ein Freund der Römer, konnte er auf seine Seite ziehen, überdies benachbarte Stämme gegen Rom mobilisieren. Germanicus zeigte sich besorgt über diese Entwicklungen und änderte erneut seine Pläne für den Sommerfeldzug:[71] „Damit der Krieg nicht mit seiner ganzen Gewalt hereinbreche“ strebte der Feldherr nunmehr danach, „die feindlichen (Kräfte) auseinanderzureißen“.[72] Er bildete drei Heeressäulen: Caecina führte 40 Kohorten[73] mit rund 20.000 Mann von Xanten aus in das Gebiet der Brukterer zwischen Rhein und Ems. Der Präfekt Pedo durchquerte mit der Reiterei das Gebiet der Friesen in den mittleren und nördlichen Niederlanden. Germanicus ließ rund 30.000 Mann[74] der vier oberrheinischen Legionen per Schiff über den Flevosee (lat. lacus Flevo, das heutige IJsselmeer) und die Nordsee in die Ems verschiffen. Das Flottenmanöver führte nicht nur Nachschub per Flusstransport an das Operationsgebiet heran, sondern sicherte auch die Loyalität der Küstenvölker. Ein chaukisches Truppenaufgebot wurde in den Heereszug eingegliedert, was einer Geiselstellung gleichkam.[75] Eine beeindruckende Streitmacht sammelte sich schließlich an einem Treffpunkt an der Ems, vielleicht bei Rheine.[76]
Die Legionen zogen emsaufwärts durch das Gebiet der Brukterer, die jedoch einem Kampf auswichen und den vorrückenden Römern verbrannte Erde hinterließen. Einer schnellen Einheit unter Lucius Stertinius gelang es, den in der Varusschlacht verlorengegangenen Adler der XIX. Legion sicherzustellen. Schließlich wurde das Heer „in die entlegendsten Teile des Bruktererlandes geführt und alles Gebiet zwischen Ems und Lippe verwüstet, nicht weit vom Teutoburger Wald, in dem, wie es hieß, die Überreste des Varus und seiner Legionen noch unbestattet lagen.“[77]
Germanicus beschloss, den Überresten der Gefallenen die letzte Ehre zu erweisen. Möglicherweise beabsichtigte er auch eine genauere Untersuchung der Varus-Katastrophe.[43] Eine Vorhut unter Caecina erkundete die „verborgenen Waldschluchten“[78] und legte Dammwege und Brücken für das nachrückende Heer an. Die Soldaten entdeckten zunächst die Spuren des ersten Legionslagers, groß genug für drei Legionen. Schließlich gelangten sie zu den halb zerstörten Wällen und den flachen Gräben, in deren Schutz sich die dezimierten Reste des Varus-Heeres geflüchtet hatten. Eindringlich beschreibt Tacitus die Eindrücke, die sich boten:
„Mitten auf dem Feld (sah man) bleichende Knochen, zerstreut oder im Haufen, je nachdem die Soldaten die Flucht ergriffen oder Widerstand geleistet hatten. Daneben lagen zerbrochene Waffen und Pferdegerippe, zugleich sah man an den Baumstümpfen vorn angenagelte Menschenschädel. In den benachbarten Hainen standen die Altäre der Barbaren, an denen sie die Tribunen und Zenturionen ersten Ranges geschlachtet hatten. Und Überlebende dieser Niederlage, der Schlacht oder der Gefangenschaft entronnen, erzählten, hier seien die Legaten gefallen, dort die Adler geraubt worden; sie zeigten, wo dem Varus die erste Wunde beigebracht wurde, wo er durch seine unselige Rechte mit eigenem Stoß den Tod gefunden habe; auf welcher Erhöhung Arminius zum Heer gesprochen, wieviele Galgen für die Gefangenen, was für Martergruben es gegeben und wie er mit den Feldzeichen und Adlern voller Übermut seinen Spott getrieben habe.“[79]
Die Soldaten bestatteten die Gebeine ihrer Kameraden. Das erste Rasenstück am Grabhügel legte Germanicus an, so Tacitus.[80] In der Sueton-Überlieferung sammelte er als erster und eigenhändig sterbliche Überreste zur Bestattung ein.[81] Tiberius missbilligte die Bestattung wegen der demoralisierenden Wirkung auf die Legionen; überdies bekleidete Germanicus das Amt eines Auguren und hätte aus religiösen Gründen nicht mit Leichen in Berührung kommen dürfen.[82]
Die geschilderte Bestattung unterstützt die Verortung der Varusschlacht am Fundort Kalkriese. Dort wurden Knochengruben entdeckt, die Überreste von mindestens 17 Erwachsenen im Alter von ca. 20 bis 47 Jahren enthalten.[83] Einige der Knochenteile weisen erhebliche Verletzungsspuren auf. Die Überreste wurden mit Ausnahme eines Beckenknochenfragments ausschließlich männlichen Individuen zugeordnet. Aufgefunden wurden die Skelettteile ohne anatomischen Zusammenhang und durchmischt mit Tierknochen. Sie wurden erst nach dem Vergehen der Weichteile eingesammelt und bestattet. Die Befunde lassen sich „mit einem Schlachtgeschehen in Verbindung bringen.“[84]
Im Sommer 2016 wurden in Kalkriese die Überreste eines weiteren Walls entdeckt. Dieser könnte zusammen mit dem seit längerem bekannten Wall am Oberesch zu dem von Tacitus erwähnten letzten Varus-Lager gehören. 2017 sollen Grabungen weitere Aufschlüsse bringen[veraltet]. Bereits 2011 wurde die Möglichkeit in Erwägung gezogen, dass der Wall am Oberesch nicht Teil eines germanischen Hinterhaltes, sondern eines Römerlagers gewesen sein könnte.[85]
Arminius hatte sich unterdessen in unwegsames Gelände zurückgezogen, wohin Germanicus folgte. Auf einer Ebene stellten sich die Germanen zum Kampf. Die römische Kavallerie griff aus dem Marsch heraus an, die Krieger flohen zum Schein. Ein überraschender germanischer Flankenangriff brachte die Reiterei in Unordnung und drängte auch herbeigeeilte Reservekohorten beinahe in einen Sumpf. Erst die heranrückenden Legionen konnten die Lage stabilisieren. Man „trennte sich ohne Entscheidung“, wie Tacitus einräumte.[86] Möglicherweise hatte Germanicus seinen Gegner unterschätzt, weil er die Katastrophe des Jahres 9 n. Chr. vor allem auf ein Versagen des Varus zurückführte und nicht mit den militärischen Möglichkeiten einer von Arminius geführten germanischen Streitmacht rechnete.[87]
Nach der Schlacht befahl Germanicus die Rückkehr in die Winterlager. Er selbst marschierte mit seinem oberrheinischen Heer zur Ems, um die Schiffe zu besteigen. Die Reiter sollten an der Küste folgen. Die vier niederrheinischen Legionen des Caecina schlugen den Landweg ein, der sie über die pontes longi (lange Brücken) führte. Diese germanischen Bohlenwege, gelegen entweder in der norddeutschen Tiefebene oder zwischen Rhein und Ems, führten durch ausgedehnte Sumpfgebiete und waren knapp zwei Jahrzehnte zuvor von Lucius Domitius Ahenobarbus ausgebaut worden.[88] Möglicherweise sollten die Truppen Caecinas die Wege als Vorbereitung für das nächste Feldzugjahr instand setzen.[89]
Die Gefahr eines germanischen Überfalls auf das Heer des Caecina war den Verantwortlichen offenbar bewusst: Germanicus forderte den Legaten auf, die pontes longi „so schnell wie möglich zu überqueren, obwohl er auf bekannten Wegen zurückkehrte.“[90] Trotzdem gelang es Arminius, die Legionen auf kürzeren Wegen zu überholen. In sumpfigem Gelände zwang er die Römer zur Schlacht. Nach zweitägigen, verlustreichen Kämpfen und der Aufgabe des Trosses konnten die Legionen am Abend des zweiten Tages ein Lager auf festem Grund errichten. Arminius riet in dieser Situation zum Abwarten; er wollte die Römer am nächsten Tag ausrücken lassen und auf dem Weitermarsch erneut attackieren. Auf Betreiben des Inguiomerus setzen die Germanen jedoch zum Sturm auf das Lager an. Ein überraschender Ausfall der Römer schlug die Angreifer zurück. Der Sieg war so vollständig, dass den Legionen keine Gefahr mehr auf dem Weitermarsch drohte.
Unterdessen waren auch Teile der von Germanicus geführten Verbände in Schwierigkeiten geraten. Zwei der vier Legionen konnten zunächst nicht an Bord der Schiffe gehen, weil die Fahrzeuge bei voller Beladung aufgelaufen wären. Deshalb sollte der Legat Publius Vitellius die II. und die XIV. Legion an der Küste entlangführen. Eine schwere Sturmflut[91] zur Tag-/Nachtgleiche (für das Jahr 15 n. Chr. der 23. September)[92] überschwemmte die Küstenlandstriche und riss viele der Marschierenden mit sich. Mühsam retteten sich die Überlebenden auf höher gelegenes Gebiet. Angeblich an der Weser – Teile der Forschung vermuten hier jedoch einen Überlieferungsfehler[93] – stellten die Überlebenden den Kontakt zur Flotte wieder her und schifften sich ein.
Die Bilanz des Feldzugjahres war ernüchternd. Zwar hatten die Römer die Kontrolle über die Nordseestämme behalten, einen Varus-Adler heimgeholt und Racheakte für die Varus-Niederlage vollzogen. Doch die erhoffte Spaltung der Cherusker war ausgeblieben und der germanische Widerstand war ungebrochen. Überdies war es den Stämmen gelungen, den Römern erhebliche Verluste zuzufügen. Germanicus hatte mit Arminius einen Gegenspieler erhalten, der auf Grund seiner außergewöhnlichen Fähigkeiten im Jahr 15 n. Chr. die Oberhand behalten hatte.[94]
Tiberus missbilligte die Kriegführung seines Feldherren. Zu konzeptlos und riskant schien das Vorgehen des Germanicus.[95] Spätestens im Herbst, vielleicht bereits im Sommer, drängte der Imperator auf die Beendigung des Krieges. Die Gewährung eines Triumphes[96] war das unmissverständliche Signal an Germanicus, den Krieg einzustellen.[97] Doch der junge Feldherr ignorierte die Forderungen aus Rom und rüstete für das nächste Jahr zum großen Schlag gegen die Arminius-Koalition.
Nicht mehr die Spaltung des Gegners war im Jahr 16 n. Chr. das Ziel, sondern dessen Vernichtung.[98] Ein „blutiger und erbarmungslos geführter Offensivkrieg“,[57] geprägt von rücksichtsloser Härte gegenüber dem Gegner und den eigenen Truppen[42] erreichte im Jahr 16 n. Chr. seinen Höhepunkt. Hauptgegner waren die Cherusker, die in ihren Kerngebieten an der oberen Weser und im Leinetal angegriffen werden sollten.
Ausführlich lässt Tacitus den Germanicus strategische und taktische Überlegungen anstellen:[99] Für die Germanen von Vorteil seien Wälder und Sümpfe sowie der kurze Sommer, der die römische Operationszeit beschränkte; nachteilig seien Feldschlachten in offenem Gelände. Für die Römer hingegen problematisch wären die langen Märsche, der Waffenverbrauch, die langen Trosskolonnen sowie die Tatsache, dass die gallischen Pferderessourcen mittlerweile nahezu erschöpft waren. Eine Lösung bot der Seeweg: Legionen und Proviant konnten gemeinsam transportiert und die Feldzüge früher im Jahr begonnen werden. Die Pferde wurden durch See- und Flusstransporte geschont. Hinzu kam das Überraschungsmoment, denn die Legionen konnten unvermittelt über die norddeutschen Flüsse tief ins Innere Germaniens vorstoßen. Ein weiteres Argument nennt Tacitus an anderer Stelle: Die Germanen hatten die Angewohnheit, die Römer auf den Rückmärschen anzugreifen, weil die Wegeprobleme mit fortschreitender Jahreszeit witterungsbedingt zunahmen, die Vorräte weitgehend erschöpft waren und die Legionen nicht mehr flexibel operieren konnten.[100] Eine Flotte verbesserte die logistischen Möglichkeiten und verkürzte die Rückmärsche.
Um diese Strategie umzusetzen, befahl Germanicus die Ausrüstung einer Flotte aus 1.000 Schiffen, die Tacitus ausführlich beschrieb:[101] Manche (aliae) der Transporter waren kurz gebaut, mit breitem Rumpf, aber schmalem Bug und Heck, um den Wellen leichter standzuhalten; einige (quaedam) hatten einen flachem Kiel, um auflaufen zu können; mehrere (plures) waren mit Steuerrudern vorne und hinten ausgerüstet, um das Fahrzeug seitlich versetzen zu können;[102] viele (multae) verfügten über Decks, um darauf oder in deren Schutz Pferde, Proviant und Geschütze zu befördern.
Während der Schiffsraum bis in das Frühjahr hinein vorbereitet wurde, befahl Germanicus Militäroperationen gegen rheinnahe Stämme. Der Legat Silius zog mit schnellen Truppen von Mainz aus gegen die Chatten, erreichte jedoch nur die Gefangennahme von Frau und Tochter des Chattenfürsten Arpus.
Germanicus marschierte unterdessen mit sechs Legionen die Lippe aufwärts, um ein Kastell zu entsetzen, das von Germanen belagert wurde. Bei dem Lager könnte es sich um Aliso gehandelt haben; es wäre in diesem Fall nach der Varus-Katastrophe wieder aufgebaut worden[103] und den Winter über besetzt gewesen.[104] Die Germanen zogen sich vor der Übermacht zurück, zerstörten jedoch den im Vorjahr errichteten Grabhügel für die Gefallenen der Varusschlacht sowie einen Drusus-Altar. Germanicus ließ den Altar wiederherstellen, außerdem Straßen und Dammwege zwischen dem Rhein und Aliso neu befestigen. Dann sammelte er die Legionen bei der Bataverinsel zwischen Niederrhein und Waal, um die mittlerweile dort bereitstehenden Schiffe zu besteigen.
Wie im Jahr zuvor, nunmehr jedoch mit allen acht Legionen und der Reiterei, segelte der Verband durch den Drususkanal und den Flevosee über die Nordsee in die Ems. Die Flotte dürfte um die 70.000 Mann transportiert haben, überdies rund 10.000 Reitpferde und ebenso viele Lasttiere.[105] Die Schiffe landeten nahe der Flussmündung noch im Einflussbereich der Gezeiten – ein Widerspruch zum strategischen Konzept, das die Vorteile einer Flussfahrt hervorhob. Die Landung erfolgte am westlichen Emsufer. Bei Bentumersiel wurden römische Fundstücke entdeckt, die zeitlich den Militäroperationen des Germanicus zugeordnet werden können.[106] Der Nachweis eines Lagers oder Flottenlandeplatzes gelang bisher nicht.
Tacitus beschreibt die Landung sowie die Schwierigkeiten und Verzögerungen bei der anschließenden Emsüberquerung. Dieses 8. Kapitel im zweiten Buch der Annalen gehört zu den rätselhaftesten und umstrittensten der taciteischen Germanicus-Schilderung, endgültige Klarheit war bisher nicht zu gewinnen. Auch die anschließende Marschroute des Heeres bleibt ungewiss. Der Weg führte wohl durch die Gebiete der Chauken und Angrivarier und schließlich die Weser aufwärts.[95] Eine Revolte angrivarischer Stammesteile im Rücken der Römer wurde durch Reiterei und Leichtbewaffnete unter Stertinius rasch unterdrückt.
Wohl an der Porta Westfalica errichteten die Römer einen Stützpunkt am westlichen Weserufer. Die germanischen Verbände hatten sich östlich des Flusses gesammelt. Über den Strom hinweg entspann sich ein Streitgespräch zwischen Arminius und dessen Bruder Flavus („Der Blonde“), der in römischen Diensten stand. Flavus hob die Größe Roms hervor, warnte vor den Strafen für Besiegte und betonte die Milde für Unterworfene; auch Frau und Sohn des Arminius würden gut behandelt. Arminius erinnerte den Bruder an die „heilige Verpflichtung gegenüber dem Vaterland“ (fas patriae), die „altererbte Freiheit“ (libertatem avitam) und die heimischen Götter.[107] Ein Streit entbrannte, Arminius kündigte den Römern eine Schlacht an.
Am anderen Tag überquerten Kavallerieverbände der Römer den Fluss an Furten, um den Brückenschlag des Heeres abzusichern. Die batavischen Hilfstruppen unter ihrem Anführer Chariovalda gerieten in einen Hinterhalt und wurden beinahe aufgerieben. Chariovalda fiel, bevor andere römische Einheiten unter dem Legaten Stertinius und dem Primipilaren Aemilius den Bedrängten zu Hilfe eilen konnten.
Die Römer überschritten die Weser und erfuhren von einem Überläufer den von Arminius gewählten Schlachtort. Überdies erhielten sie Kunde, dass sich weitere Stämme zusammengefunden hätten und einen nächtlichen Überfall auf das Lager planten.[108] Dieser Hinweis gilt als ein Beleg für die massive Unterstützung der Cherusker durch andere germanische Stämme.[109]
Germanischer Sammelpunkt war ein Wald, der dem „Hercules“[108] – tatsächlich dem Donar[95] – geweiht war. Aus der taciteischen Schilderung[110] wird nicht ersichtlich, wie lange sich die Römer zu diesem Zeitpunkt bereits östlich der Weser aufhielten. Ebenfalls unbekannt ist, welches Lager – ein Marschlager oder der Stützpunkt an der Porta Westfalica, zu dem die Römer zurückgekehrt sein könnten[111] – das Ziel des Überfalles sein sollte. Die Germanen erkannten, dass die Römer gewarnt und vorbereitet waren und sahen von dem Angriff ab. Ebenfalls erfolglos blieben germanische Versuche, die Soldaten mit dem Versprechen von Land, Geld (100 Sesterzen täglich) und Frauen zur Desertion zu bewegen.
Am nächsten Morgen wandte sich Germanicus an seine Soldaten und bereitete sie auf eine Entscheidungsschlacht in den Wäldern vor. Nicht nur die Ebenen seien günstig für Legionäre, lässt Tacitus den Feldherren ausführen,[112] sondern auch Berge und Wälder. Die Germanen könnten ihre großen Schilde und Lanzen im Unterholz nur schwer handhaben; ihre ungeschützten Körper, insbesondere die Gesichter, böten gute Ziele für die kompakten Waffen der bestens gerüsteten Römer. Die Schlacht bringe den Soldaten das Ende der anstrengenden Märsche und Seefahrten: „Die Elbe sei bereits näher als der Rhein, und jenseits werde kein Krieg (mehr geführt)“.[35] Schließlich führte er das Heer auf das Schlachtfeld, eine Ebene mit dem Namen Idistaviso. Der Begriff steht vielleicht für „Idisstättenwiese“, wobei unklar bleiben muss, wen oder was Idis- meint.[113] Norbert Wagner deutet den Namen als eine Bezeichnung für eine ertragreiche, kräftig sich erneuernden Wiese.[114] Die Auseinandersetzung gilt als die größte Schlacht der augusteischen Germanienkriege.[115] Die genaue Lage ist unbekannt, der Ort wird allgemein zwischen Minden und Rinteln vermutet.
Die Ebene zog sich unregelmäßig zwischen der Weser und Anhöhen hin und wurde „im Rücken“ durch einen lichten Wald begrenzt, berichtet Tacitus.[116] Die Cherusker hatten die Anhöhen besetzt, wohl um die Römer in der Flanke anzugreifen. Die übrigen Stämme hatten auf der Ebene und am Waldrand Aufstellung genommen. Der cheruskische Vorstoß erfolgte zu früh und Germanicus sandte die Reiterei gegen die Krieger aus. Stertinius erhielt den Auftrag, seine Einheiten in den Rücken der Cherusker zu führen. Es entwickelte sich eine lang hingezogene Umgehungs- und Verfolgungsschlacht,[95] deren Ablauf anhand der taciteischen Schilderung nicht zweifelsfrei zu rekonstruieren ist. Tacitus berichtet von einer gegenläufigen Fluchtbewegung der Germanen: Krieger, die die Ebene besetzt hatten, flohen in den Wald, während andere aus dem Wald heraus in die Ebene gedrängt wurden. Unterdessen mussten die Cherusker von den Hügeln, die sie offenbar wieder besetzt hatten, weichen und warfen sich unter Führung des Arminius in der Ebene auf die römischen Bogenschützen, denen jedoch rätische und gallische Auxilien zu Hilfe eilten. Spätestens zu diesem Zeitpunkt dürfte die Schlacht zugunsten der Römer entschieden gewesen sein. Der verwundete Arminius konnte die römischen Reihen durchbrechen und sich in Sicherheit bringen; gerüchteweise soll er dabei von chaukischen Hilfstruppen gefasst, jedoch wieder laufengelassen worden sein.
Eine große Anzahl (plerusque) Germanen, die sich schwimmend über die Weser retten wollten, ertranken. Andere versuchten sich in Baumkronen zu verstecken, wurden jedoch von Bogenschützen heruntergeschossen. Die Leichen der gefallenen Krieger bedeckten laut Tacitus den Boden auf zehn Meilen (ca. 15 Kilometer).[117] Die Forschung hält die Schilderung der Verluste für stark übertrieben, unter anderem, weil Arminius bereits im nächsten Jahr in der Lage war, ein Heer gegen den mächtigen Markomannenkönig Marbod ins Feld zu führen.[118]
Germanicus ließ ein Tropaion (Siegesmal aus Beutewaffen) errichten und in einer Inschrift die besiegten Stämme (gentes) aufzählen. Das Heer rief Tiberius zum Imperator aus (imperatorische Akklamation), eine Ehrung, die dieser jedoch möglicherweise nicht annahm.[119]
Die Entwicklungen im Anschluss an die Schlacht bei Idistaviso sind bei Tacitus nur angedeutet; auch die zeitlichen Dimensionen bleiben unklar. Zumindest Teile der Cherusker scheinen zunächst Anstalten gemacht zu haben, über die Elbe zu fliehen. Offenbar gelang es Arminius jedoch, die germanischen Truppen wieder zu sammeln und darüber hinaus weitere Kräfte zu mobilisieren: „Volk und Adelige, Jünglinge und Greise stürmten plötzlich gegen den römischen Heereszug an und brachten ihn durcheinander“.[120]
An einem germanischen Langwall, dem von der Forschung so genannten Angrivarierwall, bot Arminius den Römern erneut eine Schlacht an. Das Bollwerk hatten die Angrivarier als Grenzbefestigung gegen ihre südlichen Nachbarn, die Cherusker, aufgeworfen.[121] Die Lokalisierung ist unsicher; als wahrscheinlichster Ort gilt der Raum zwischen Steinhuder Meer und Stolzenau.[115] Im Dorf Leese wurde 1926 eine Wallstruktur archäologisch untersucht und als Angrivarierwall identifiziert.[122] Diese Deutung ist jedoch umstritten.
Tacitus schildert das Schlachtgeschehen,[123] doch ist auch hier der Verlauf nicht eindeutig nachzuvollziehen. Die germanischen Fußtruppen hatten den Wall besetzt und hielten dem römischen Angriff zunächst stand. Erst als die Römer Fernwaffen einsetzten, konnten die Verteidiger vertrieben werden. Die schwersten Kämpfe scheinen danach in den angrenzenden Wäldern entbrannt zu sein. Die Prätorianergarden führten den Angriff auf die Wälder an, der auch die Römer in eine bedrohliche Lage gebracht zu haben scheint: „Dem Feind versperrte im Rücken der Sumpf, den Römern der Fluss oder die Berge den Ausweg; für beide bestand der Zwang zum Standhalten an Ort und Stelle, lag Hoffnung nur in der Tapferkeit, ergab sich Rettung nur aus dem Sieg.“[124] Erneut bewährten sich Rüstung und Bewaffnung der Römer. Germanicus wies seine Soldaten an, keine Gefangenen zu machen, denn „allein die Vernichtung des Stammes werde dem Krieg ein Ende machen.“[125]
Am Ende des Tages hatten die Römer zwar das Feld behauptet, doch wie zuvor bei Idistaviso hatte Germanicus das eigentliche Ziel, die Vernichtung des Gegners, nicht erreicht. Dennoch errichteten die Soldaten ein Tropaion aus erbeuteten Waffen, versehen mit einer, so Tacitus, „stolzen“ (superbo) Inschrift: „Nach Niederwerfung der Stämme zwischen Rhein und Elbe hat das Heer des Kaisers Tiberius dieses Denkmal dem (…) Augustus geweiht.“[125] Die Widmung entsprach keinesfalls den politischen und militärischen Tatsachen.[126]
Im Anschluss wurde Stertinius erneut gegen die Angrivarier gesandt und konnte kampflos deren bedingungslose Unterwerfung entgegennehmen. Der Stamm erhielt daraufhin „volle Verzeihung“.[125]
Danach beendete Germanicus den Feldzug, da es „nun aber bereits Hochsommer war“[127] – eine erstaunliche Begründung angesichts des Zeit- und Erfolgsdrucks, unter dem Germanicus stand. Einige Legionen kehrten auf dem Landweg zurück, der Großteil schiffte sich auf der Ems ein.
Auf der Nordsee geriet die Flotte in einen schweren Sturm, den Tacitus eindringlich schilderte.[128] Ein Teil (pars) der Schiffe ging unter, noch mehr (plures) strandeten auf unbewohnten Inseln; die Schiffbrüchigen mussten sich bis zur Rettung von Pferdekadavern ernähren. Die Galeere des Germanicus konnte bei den Chauken landen. Nach einer Wetterbesserung kehrten die zusammengeflickten Schiffe zurück, teilweise ohne Ruder, mit Notbesegelung und im Schlepptau. Legionäre, die in die Gefangenschaft von entfernten Küstenstämmen geraten waren, wurden im Auftrag der Römer von den Angrivariern freigekauft. Einige Soldaten waren bis nach Britannien verschlagen worden und wurden von den Kleinkönigen zurückgeschickt.[129]
An den Rhein zurückgekehrt, befahl Germanicus weitere Militäroperationen. Silius zog mit 30.000 Fußsoldaten und 3.000 Reitern gegen die Chatten, konnte den Feind jedoch nicht stellen und begnügte sich mit Verwüstungen. Germanicus führte seine Legionen in das Marsergebiet. Der Marserführer (dux) Mallovendus verriet den Römern, dass einer der Varus-Adler in einem Hain vergraben sei. Einem Stoßtrupp gelang die Bergung des Feldzeichens. Es folgte ein Verwüstungszug, der kaum Widerstand fand.
Tacitus ließ an dieser Stelle der Annalen durchblicken, wie kritisch er der anschließenden Beendigung der Germanenkriege durch Tiberius gegenüberstand: Die Germanen hätten niemals so große Furcht vor den Römern verspürt wie im Herbst des Jahres 16 n. Chr. Die Legionen erschienen unbesiegbar, weil sie nach den Verlusten der Flottenfahrt noch immer in der Lage waren, mit Entschlossenheit und großer Mannstärke Einfälle nach Germanien zu unternehmen.[130] Frohgemut seien die Soldaten ins Winterlager zurückgekehrt, „weil der glückliche Feldzug sie für das Missgeschick auf dem Meere entschädigt hatte.“ Man habe keine Zweifel gehabt, dass die Germanen sich im nächsten Sommer unterworfen hätten.[131]
Tiberius teilte den von Tacitus überlieferten Optimismus des Germanicus nicht und war nunmehr entschlossen, die Feldzüge zu beenden. Der erfahrene Feldherr und Germanienkenner musste befürchten, dass der Krieg „angesichts von G[ermanicus’] beinahe schon besessenem Draufgängertum ständig die Gefahr einer zweiten Varuskatastrophe in sich barg“.[126] Tiberius stand Ende 16 n. Chr. im dritten Jahr seiner Herrschaft und war nunmehr in der Lage, die Machtprobe mit seinem populären Adoptivsohn zu bestehen.[97] In zahlreichen Schreiben, so Tacitus, übte der Imperator Kritik: Es habe genug der Erfolge (eventuum) und der Unglücksfälle (casuum) gegeben; Tiberius selbst habe seinerzeit als Oberbefehlshaber in Germanien mehr durch Überlegung (consilio) als durch Gewalt (vi) erreicht. Der Rache für das Varus-Heer sei genüge getan, man könne die Stämme nunmehr ihren inneren Zwistigkeiten (internis discordiis) überlassen. Überdies solle das Kommando am Rhein auf seinen leiblichen Sohn Drusus übergehen, damit dieser Gelegenheiten zum Ruhmerwerb erhalte.[132]
Höchste Auszeichnungen (die dem Germanicus und seinen Legaten allerdings bereits im Jahr 15 n. Chr. zuerkannt worden waren) sowie ein zweites Konsulat sollten die Form wahren und dem Germanicus die Rückkehr erleichtern.[133] Dem wachsenden Druck des Tiberius musste sich Germanicus schließlich beugen. Er verließ Germanien, um in Rom den bereits im Vorjahr zuerkannten Triumph zu begehen und anschließend eine Aufgabe im Osten des Reiches zu übernehmen. Die Germanicus-Feldzüge und mit ihnen die Epoche der augusteischen Germanenkriege waren beendet.
Zu den Erfolgen des Germanicus[134] zählen mindestens zwei größere Schlachtensiege (Idistaviso und Angrivarierwall), die Heimholung zweier Varus-Adler, Gefangennahmen (unter anderem der schwangeren Ehefrau des Arminius), die Bestattung des Varus-Heeres, die Abdrängung der rheinnahen Stämme ins Landesinnere sowie Verwüstungszüge und Rachemaßnahmen. Die Kontrolle über die Küstenstämme wurde behalten oder zurückgewonnen, die Angrivarier sowie einzelne Stammesfürsten wurden unterworfen. Dem stehen enorme Verluste gegenüber. Der Historiker Reinhard Wolters geht davon aus, dass unter Germanicus fast ebenso viele Soldaten fielen, wie in den gesamten Germanenkriegen seit 12 v. Chr. einschließlich der Varus-Katastrophe;[135] Peter Kehne veranschlagt die Verluste auf 20.000 bis 25.000 Mann.[136]
Weit entfernt war Germanicus von seinem ehrgeizigen Ziel – sollte es tatsächlich in dieser Form bestanden haben –, die römische Kontrolle bis zur Elbe auszudehnen. Die Siegchancen für das Jahr 17 n. Chr. bewertet die Geschichtsforschung überwiegend negativ.[137] Die römischen Militärschläge hatten die Germanen nicht entscheidend geschwächt, vielmehr scheint der germanische Widerstand mit der Angriffsintensität der Römer gewachsen zu sein. Größe und Hartnäckigkeit der Arminius-Koalition hatten schließlich den Abbruch der Eroberungsversuche erzwungen.[51] Der Vernichtungskrieg des Germanicus war gescheitert.[136]
Für die Römer bedeutete die Abberufung des Germanicus das Ende der militärischen Offensivpolitik. Die Truppenmassierungen in Xanten und Mainz wurden reduziert, das einheitliche Oberkommando über die Rheinarmee endete. Die rechtsrheinischen Standorte wurden aufgelassen mit Ausnahme einiger Plätze an der Nordseeküste und vor Mainz. Einfluss auf die Stammeswelt wurde weiterhin genommen, doch mit anderen Mitteln: Diplomatie, Geld und Kontakte zu alten Verbündeten (zum Beispiel zu dem Ampsivarierfürsten und Arminius-Gegenspieler Boiocalus) sollten den römischen Einfluss östlich des Rheins aufrechterhalten.
Am 26. Mai 17 n. Chr. beging Germanicus in Rom seinen Triumph. Im Zug mitgeführt wurden Thusnelda mit ihrem zweijährigen Sohn sowie weitere Gefangene aus Stämmen, die Strabon benennt.[138] Für die Rückgewinnung der Varus-Adler wurde neben dem Saturntempel ein Triumphbogen geweiht. Der Triumph sollte darüber hinwegtäuschen, wie wenig Germanicus tatsächlich erreicht hatte. Es wurde „die Fiktion aufrechterhalten, dass es ihm gelungen war, der gesamten westgermanischen Stämme Herr zu werden“.[139] Für Tacitus waren die Ehrungen eine Farce, weil sie weniger Erfolge belohnen, sondern Misserfolge kaschieren und den Krieg beenden sollten: Den „Krieg nahm man, weil Germanicus an der Beendung gehindert (prohibitus) worden war, als wirklich beendet an (pro confecto accipiebatur).“[140]
Weitaus realistischer als die Triumphbegründung fiel zwei Jahre später die Inschrift der Tabula Siarensis aus. Kein Wort steht dort von der Elbe, keine Stämme und keine Schlachten sind benannt. Es ist lediglich die Rede vom Sieg über die Germanen, von deren Zurückdrängung von der gallischen Grenze, von der Rückgewinnung der Adler und von der Rache für die Varusniederlage.[141] Die aufgezählten Verdienste entsprachen nicht mehr den ehrgeizigen Plänen des Augustus und des Germanicus, vielmehr tritt hier die begrenzte Zielsetzung des Tiberius hervor. Der Imperator nutzte die Totenehrung, um die eigene Konzeption nachträglich zum gemeinsamen Ziel zu erklären.[142] Diese Uminterpretation fand ihren Niederschlag in den Annalen:[143] Der Krieg gegen die Germanen sei geführt worden, „mehr um die Schande [der Varus-Katastrophe] zu tilgen (…), als aus dem Bestreben das Reich zu erweitern, oder wegen der Aussicht auf entsprechenden Gewinn.“[144]
Den Stämmen bot der Wegfall der römischen Bedrohung die Möglichkeit, zur innergermanischen Machtpolitik zurückzukehren. Bereits 17 n. Chr. war Arminius in der Lage, das Reich des Markomannen-Königs Marbod in Böhmen erfolgreich anzugreifen. Vier Jahre später jedoch fiel Arminius den cheruskischen Adels- und Faktionskonflikten zum Opfer: Die eigenen Verwandten vergifteten den Cheruskerfürsten, wohl auch, um eine Wiederaufrichtung der Königsherrschaft im Stamm zu verhindern.[145]
Die Forschung schätzt die Leistung des Arminius in den Jahren 15 und 16 n. Chr. als maßgeblich ein. Der Erfolg der Germanen kam durch das „überragende strategische Geschick des Arminius“ zustande.[146] Die Schaffung einer großen Koalition und eine Kriegsführung ohne das Überraschungsmoment des Jahres 9 n. Chr. „erweisen den Cheruskerfürsten als einen wirklich bedeutenden Politiker und Heerführer der Germanen.“[147] Nicht bereits die Varusschlacht im Jahre 9 n. Chr. war der historische Wendepunkt in der Auseinandersetzung zwischen Römern und Germanen, sondern die Zeit der Bewährung in den Jahren danach mit dem Höhepunkt der Germanicus-Feldzüge.[148]
Diese Deutung steht in Einklang mit der Bewertung durch Tacitus. Im Bewusstsein des endgültigen Verzichts auf Germanien durch Domitian (Kaiser bis 96 n. Chr.) urteilte der Geschichtsschreiber rund 100 Jahre nach den Geschehnissen über Arminius: „Er war ohne Zweifel der Befreier Germaniens, der nicht wie andere Könige und Heerführer das römische Volk in seinen Anfängen, sondern ein Reich in seiner ganzen Blüte herausgefordert und in den Schlachten mit wechselndem Erfolg (gekämpft hatte), im Krieg aber unbesiegt (geblieben war).“[149]
Die Darstellung der Flottenlandung an der Ems-Mündung im Sommer 16 n. Chr. gehört zu den rätselhaftesten Passagen der taciteischen Feldzugbeschreibung.[150] Ohne Texteingriffe oder aufwendige Interpretationen konnte sie bisher nicht erklärt werden.[151] Zunächst berichtet Tacitus von der Flottenfahrt des Germanicus vom Niederrhein durch den Flevosee und die Nordsee. Dann heißt es: „In dem linken Lauf der Ems ließ er die Flotte zurück und beging damit einen Fehler, weil er sie nicht stromaufwärts fahren ließ: Er ließ das Heer, das in die Gebiete zur Rechten gehen sollte, übersetzen; so gingen zu viele Tage mit dem Bau von Brücken verloren.“[152]
Bei der Landung in dem „linken Lauf“ (laevo amne) der Ems ist nicht völlig sicher, ob „links“ aus geographischer Sicht gemeint ist (von der Quelle zur Mündung blickend) oder aus der Perspektive des Akteurs (aus der Sicht des in die Ems einfahrenden Germanicus). Für beide Varianten finden sich bei Tacitus und Plinius Belege.[153] Karl Meister machte sich 1955 dafür stark, die Seite vom einfahrenden Germanicus aus zu sehen.[10] Dies würde jedoch bedeuten, dass die Römer anschließend den Fluss nach Westen überquert hätten, was militärisch sinnlos erscheint. Insgesamt gibt die Forschung der geographischen Sichtweise den Vorzug, sieht also eine Landung am Westufer und ein anschließendes Übersetzen in östlicher Richtung.[154] Allerdings ist ungeklärt, ob mit lat. amne tatsächlich das Ufer der Ems gemeint ist oder ein zweiter Mündungsarm, der heute verlandet ist. Meister schlägt „Flussarm der Ems“ vor.[155]
Weitere Interpretationsschwierigkeiten bereitet der Flussübergang. Im Text des Codex mediceus stehen „fahren ließ“ (subvexit) und „übersetzen“ (transposuit) ohne Satzzeichen nebeneinander (…non subvexit transposuit militem…). Teile der Forschung vermuten deshalb entweder eine nachträgliche Ergänzung von transposuit[156] oder den Wegfall des Bindewortes „und“ zwischen den beiden Begriffen. Die neuere Forschung verwirft solche Korrekturen und sieht in transposuit den Beginn eines neuen Satzes, in dem das Verb betont an den Anfang gestellt ist.[157] Zahlreiche moderne Übersetzungen fügen einen Doppelpunkt zur Trennung ein. Nicht geklärt ist dadurch jedoch die Frage, warum Germanicus die Flotte nicht gleich in den rechten (östlichen) Flussarm einfahren bzw. am Ostufer anlanden ließ, überdies, warum die Schiffe nicht, wie in den strategischen Vorüberlegungen dargestellt,[99] weiter flussaufwärts fuhren. Die Ems war laut Strabon schiffbar.[2] Karl Meister vermutet ein Auflaufen der beladenen Schiffe oder eine Gefährdung durch Treibholzinseln.[158] Auch mögen die Römer die Schwierigkeiten des Brückenbaus im Gezeitenbereich des Flusses unterschätzt haben.[159]
Viel diskutiert wurde die Frage, ob Germanicus im Jahr 16 n. Chr. tatsächlich, wie bei Tacitus geschildert, an der Ems (Amisia) anlandete oder nicht tatsächlich an der Weser (Visurgis). Das hauptsächliche Operationsgebiet der Römer, das Cheruskergebiet, befand sich an der mittleren und oberen Weser und an der Leine – eine Einfahrt in die Weser wäre also naheliegend gewesen. Überdies fehlt bei Tacitus jeder Hinweis auf einen Marsch von der Ems zur Weser. Diese Schilderungslücke wird unterschiedlich interpretiert: als Paradebeispiel für die typisch taciteische Kürze (Brevitas),[160] als Textverlust in der Überlieferung[161] oder als Irrtum des Tacitus, der die Strecke von der Emsmündung zur Porta Westfalica (rund 200 km) unterschätzt haben könnte.[162]
Vehement vertrat um 1900 Hans Delbrück die These von der Wesereinfahrt. Nach ihm sei „der ganze Zweck der Seeexpediton“ die „Heranschaffung eines schwimmenden Proviantmagazins auf der Weser“ gewesen, wie er 1921 schrieb.[163] Diese Position wurde immer wieder aufgegriffen.[164] Reinhard Wolters plädierte 2008 für eine Konjektur von „Ems“ zu „Weser“, unter anderem weil Tacitus berichtet, die Angrivarier hätten sich im Rücken des Heeres erhoben.[165] Das angrivarische Kerngebiet lag damals nördlich der Region Minden. Nur bei einem römischen Zug die Weser hinauf war die genannte Erhebung „im Rücken“ möglich. Eine Verwechslung der Flüsse durch Tacitus hält Wolters für unwahrscheinlich. Vielmehr habe vermutlich ein Kopist des Annalen-Textes den Ort der Abholung des Heeres im Spätsommer 16 n. Chr.[166] mit dem Ort der Anlandung synchronisieren wollen und deshalb Weser zu Ems geändert.[167]
Andere Forscher[168] halten eine Konjektur für unbegründet. Erich Koestermann sieht eine römische Flottille auf der Hase, einem östlichen Nebenfluss der Ems, als schwimmende Nachschubbasis für den Vormarsch in Richtung Minden und schließt eine Weser-Fahrt aus.[161] Dieter Timpe sieht keinen Grund, einen Textverlust anzunehmen, und hält eine Textänderung für unannehmbar.[169]
Archäologisch sind die Militäroperationen der Jahre 10 bis 16 n. Chr. kaum greifbar. Es herrscht eine erstaunliche Fundleere vor angesichts der weiträumigen Operationen der großen Tiberius- und Germanicus-Heere.
Keiner der rechtsrheinischen Münzfunde lässt sich zweifelsfrei dem Heer des Germanicus zuordnen. Zurückführen lässt sich das Fehlen von Münzen der Germanicus-Zeit möglicherweise darauf, dass die Bezahlung der Soldaten vor allem mit altem Geld erfolgte. Frisch geprägte Münzen erreichten die Truppe nur unregelmäßig und verzögert. Auch kam es immer wieder vor, dass mehrere Jahre lang keine neuen Münzen geprägt wurden.[170] Münzverluste der Germanicus-Feldzüge wären also nicht von denen vorangegangener Kampagnen zu unterscheiden.
Archäologische Stätten sind ebenfalls kaum zwingend mit Germanicus in Verbindung zu bringen. Möglicherweise sind die am Fundplatz Kalkriese entdeckten Knochengruben auf das Wirken des Germanicus-Heeres zurückzuführen. Bei Bentumersiel nahe der Emsmündung wurden Militaria der Germanicus-Zeit entdeckt, jedoch keine Überreste, die auf Militäranlagen schließen lassen. Die Verortung des von Germanicus eroberten chattischen Hauptortes Mattium mit der Altenburg bei Niedenstein ist unsicher, ebenso die des Angrivarierwalls bei Leese.[171] Möglicherweise gehört das Römerlager bei Friedberg (Hessen) in die Germanicus-Phase. Es ist jedoch nicht gleichzusetzen mit dem von Tacitus erwähnten Lager im Taunus.[172] In der römischen Stadt bei Lahnau-Waldgirmes (gegründet spätestens 3 v. Chr.) kam es 9 oder 14 n. Chr. zu Zerstörungen. Nach diesen nutzten die Römer den Ort jedoch weiter. Die endgültige Aufgabe des Platzes ist wahrscheinlich auf das Jahr 16 n. Chr. zu datieren, also in die Germanicus-Zeit.[173] Auch in dem römischen Hauptlager Haltern an der Lippe wurden Hinweise für eine Nutzung nach Zerstörung gefunden, die allerdings umstritten sind.[174] Sollte es sich bei Haltern tatsächlich um das überlieferte Aliso handeln, wäre eine Belegung bis 16 n. Chr. vorauszusetzen, obwohl die numismatischen (münzkundlichen) Befunde nur bis 9 n. Chr. reichen.[175] Ansonsten scheint keines der zahlreichen in den letzten Jahrzehnten entdeckten Römerlager das Jahr 9 n. Chr. überdauert zu haben.[176]
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