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Archaische Spiritualität in systematisierten Religionen beschreibt die hypothetischen Übergangsphänomene und Synkretismen, die postulierte religiös-spirituelle Vorstellungen des prähistorischen Menschen in späteren, vor allem in den systematisierten Religionen hinterlassen haben könnten. Die Anpassungsvorgänge an die neuen Wirtschaftsformen im Laufe der neolithischen Revolution haben sich in den später entstehenden frühen Staaten mit ihren zunehmend als Herrschaftsinstrument genutzten Religionen fortgesetzt.[1] Besonders der rumänische Religionswissenschaftler Mircea Eliade hat dahingehend weitreichende Untersuchungen und Schlussfolgerungen vorgenommen,[2] die jedoch heute als sehr spekulativ und romantisierend erachtet werden.[3] Julien Ries hat die mögliche Entwicklung in einem Modell zusammengefasst.
Der belgische Religionsanthropologe Julien Ries entwarf vor dem Hintergrund der (heute weitgehend verworfenen) Schamanismus-Theorie Eliades und anderer Konzepte ein sechsstufiges Modell der Religionsentwicklung. Es bietet einen Erklärungsversuch, warum archaische Weltanschauungen bis in unsere Zeit hineinwirken könnten:[4]
Ab der vierten Stufe beginnen die animistischen Vorstellungen und Praktiken der vormaligen Jäger und Sammler offenbar zu schwinden, und ihre geistigen Grundlagen und Mechanismen werden in die neu entstehenden systematisierten Religionen integriert oder auch gänzlich verlassen; doch bleiben Residuen, die nun allerdings mit neuen Bedeutungen gefüllt werden.
Die Auflistung und Darstellung orientiert sich an Kulturen, Ethnien bzw. sozialen Gruppen, die sich in ihrer zeitlichen Einordnung, also in den partikulären Epochen der Menschheitsgeschichte, deutlich voneinander unterscheiden möchten.
Insbesondere seit Eliades groß angelegtem Werk Schamanismus und archaische Ekstasetechnik (Erstausgabe auf Französisch 1957) entstanden verschiedene Schamanismus-Konzepte, die je nach Autor ganz unterschiedliche Betrachtungsweisen, geografische Zuordnungen und Schwerpunkte setzten. In jedem Fall handelt es sich dabei nicht um eine Art universeller archaischer Religion wie die Endsilbe -ismus suggerieren mag, sondern um eine Vielzahl uneinheitlicher, eurozentrisch-wissenschaftlicher Thesen, die versuchen, die Phänomene rund um die Geisterbeschwörer der verschiedenen Ethnien auf ein einheitliches, abstraktes Konzept zu reduzieren.[5][6] Insofern haben die meisten Konzepte mit universellem Anspruch (u. a. spirituelle und prähistorische Konzepte) heute in der Ethnologie keine Gültigkeit mehr oder werden heftig kritisiert. In anderen Wissenschaften bisweilen und prinzipiell im unwissenschaftlichen Neoschamanismus wird immer noch auf solche Thesen aufgebaut.[7]
Besonders in den Religionen früher Hochkulturen lassen sich zahlreiche Reste archaischer Spiritualität feststellen. Viele der oben zum Paläo- und Neolithikum aufgelisteten religiösen Phänomene waren in ihnen – wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß und mit verschiedenen Schwerpunkten – noch lebendig und „lassen eine Kulturtradition von der vorvergangenen Zeit erkennen.“ (Müller-Karpe). Dazu treten aber zunächst in Ägypten und Mesopotamien religionsgeschichtliche Neuerungen, die für eine frühe hochkulturelle Situation grundsätzlich typisch sind: Mythologie, Sakralkönigtum, explizite Jenseitsvorstellungen und Theologie.[8]
Der Ethnologe Klaus E. Müller stellt zu dieser Situation fest, dass ein Schamanismus (nach seiner These eine „Wissenschaft des magisch-mythischen Denkens mit berufenen, sozial verpflichteten Sachverständigen“)[9] in den angrenzenden altweltlichen Entstehungsgebieten der Archaischen Hochkulturen durchaus ursprünglich bestanden haben könnte, dann aber, wie analog auch in den mesoamerikanischen und andinen Hochkulturen, verdrängt bzw. ausgelöscht worden sein dürfte.[10] Ähnliches gilt auch für andere alte Religionen der Mittelmeerregion und des Mittleren Ostens (Kleinasien, Palästina, Iran, Altarabien), soweit überhaupt verlässliche Informationen darüber vorliegen, ebenso bei den meisten neolithischen vorindoeuropäischen Kulturen Europas, also allen vor dem Eintreffen der Indoeuropäer mit Ausnahme solcher, die später eine Hochkultur entwickelten, wie etwa die Etrusker, später dann für die indoeuropäischen Völker selbst, etwa Griechen, Römer, Kelten, Germanen und Slawen. Allerdings gibt es dazu kaum sichere Belege, vor allem bei Völkern ohne oder mit bisher nicht entzifferten Schriften, deren Traditionen später griechisch, römisch, christlich oder islamisch überformt wurden. Oft wurden archaische Grundformen – von manchen Autoren schamanistisch genannt – nach und nach völlig umgewandelt, so wie etwa die heutigen Halloween-Bräuche, bei denen ein Zusammenhang mit dem keltischen Fest Samhain vorliegt und die heute im christlichen Gewande von Allerheiligen auftreten.[11] Auch der japanische Staatsschintoismus wurzelt zwar direkt und rituell recht eindeutig im sibirischen Schamanismus.[12] Seine Konzepte haben mit diesem aber nur noch wenig gemein, ebenso wenig wie der Hinduismus, Buddhismus (Lamaismus, Tantrismus, Yoga) oder Daoismus zwar vergleichbare Wurzeln haben, aber ganz andere geistige Welten entwickelten. Die Frage nach diesen Ursprüngen bleibt von theoretisch-religionswissenschaftlichem Interesse.[13]
Es handelt sich dabei geographisch um die in der nebenstehenden Abbildung grün eingefärbte Zone.
S. A. Tokarew stellte fest, dass die altorientalischen Gesellschaften vor allem Ägyptens und Mesopotamiens, deren Beginn bis ins 4. vorchristliche Jahrtausend zurückreicht, sich im Rahmen der dortigen sozioökonomischen Ordnung mit unentwickelter Sklaverei und stabilen Dorfgemeinschaften als sehr stabil und wenig beweglich erwiesen haben, mit einem bis an die Grenzen der Unveränderlichkeit reichenden Beharrungsvermögen. Dies alles habe sich auf die dortigen Religionen ausgewirkt: „In diesen Religionen erhielten sich sehr lange archaische Züge, allerdings in Verbindung mit komplizierten Formen, wie sie sich aus den sozialen und politischen Lebensbedingungen ergaben“.[14]
Quellen:[31]
All diese vorderorientalischen Religionen enthalten somit selbst bei großzügiger Betrachtungsweise kein funktional archaisches Element. Zentral wurde vielmehr das Konzept des jährlichen Werdens und Vergehens, das in bäuerlichen Kulturen weltweit zu finden ist. Wildbeuterische Vorstellungen hatten hier keinen Platz mehr, und ihre Reste innerhalb des neuen Weltbildes wurden transformiert. Aus Jagdmythen wurden Agrarmythen, in denen die Polarität Mann – Frau zum zentralen Element des Fruchtbarkeitszaubers wird und Tod und unterirdische Welt zum Teil dieses Zyklus werden.[41] Die Vorstellungen vom Leben nach dem Tode veränderten sich, wurden konkreter und materieller; sie äußerten sich vor allem in den Bestattungsriten, besonders auffallend im Natoufien Palästinas. Man glaubte zwar an ein Leben nach dem Tode, für das man die Toten gut ausstattete, doch nicht mehr an eine bedeutende Rolle der Ahnen im Diesseits.[42] An ihre Stelle traten nun immer stärker priesterlich kultische Formen.[43]
Die alten Religionen der arabischen Halbinsel in der Übergangszone zwischen Ägypten, Mesopotamien und Palästina, deren Zerfall mit für den Erfolg des Islam verantwortlich war,[44] sind durch den Wüstencharakter, die damit einhergehende Isolation der Bevölkerung und ihre altertümliche Sippenstrukturen geprägt und konnten lange Zeit archaische Religionselemente bewahren. Allerdings wurden in ihrem Bereich bereits im 1. Jahrtausend v. Chr. Staaten wie der Jemen mit einer ausgeprägten Organisation gebildet, wie die biblische Legende von der Königin von Saba berichtet.[45] Durch die Domestizierung des Kamels gegen Ende des 3. vorchristlichen Jahrtausends weitete sich der Aktionsradius der dortigen Nomaden gewaltig aus, und es entstand ein Geflecht von Karawanenstraßen, die den kulturellen Austausch begünstigten.[46]
Durchweg enthielten diese meist lokalen Religionen aber Elemente, die in den Bereichen der Hochreligionen längst verlassen oder modifiziert worden waren. Man weiß darüber eigentlich nur das, was der Koran und die Traditionen (Hadith und Sunna) dazu überliefern, die zahlreiche dieser Vorstellungen aufgenommen haben (z. B. Geister, Dschinn, Ka'aba, Huri usw.). Die Gesellschaft war tribalistisch strukturiert mit lokalen, deutlichen animistisch geprägten Gottheiten, die in Steinen oder Bäumen personifiziert waren. Wie in den anderen vorderorientalischen Religionen sind nur schwache und indirekte Bezüge zu archaischen Religionen feststellbar. Der Islam nicht nur Afrikas enthält noch Spuren dieser Vorstellungen, etwa einen Steinkult (z. B. der Kaaba in Mekka) und Geistervorstellungen wie die Dschinn. Orakel waren üblich und wurden unter anderem aus dem Rauschen der Bäume oder dem Werfen von Pfeilen gedeutet.[47]
Zur allgemeinen Fundlage der vorindoeuropäischen alteuropäischen Gruppen des Meso- und Neolithikums und ihrer Interpretation im Zusammenhang mit schamanistischen Deutungsversuchen siehe vor allem unter „Prähistorischer Schamanismus“.
Aussagen sind hier nur aufgrund archäologischer Funde, gewöhnlich Idole und Bestattungen, möglich. Diese erlauben kaum eine eindeutige Bezugnahme zu archaischen oder gar konkret schamanischen Praktiken, auch wenn diese aufgrund der Kultur, vor allem wenn sie noch stark als Jäger-Sammler/Fischer-Ökonomie ausgeprägt war, nicht unwahrscheinlich gewesen sein dürften, jedoch neolithisch meist durch Mutter- und Fruchtbarkeitskulte überlagert wurden. Zudem präsentieren sich die Funde in ganz Europa aus dieser Periode sehr uneinheitlich. Innerhalb der Sippen gab es offenbar ausgeprägte religiöse Vorstellungen zur Fruchtbarkeit und einen Ahnenkult. Dieser ist durch große, siedlungsnahe Bestattungsfelder ausgewiesen, die eine Nähe der Ahnen und durch Grabbeigaben eine entsprechende Jenseitsvorstellung signalisieren, und dürfte auch von entsprechenden Riten begleitet gewesen sein. Im Zusammenhang mit der mesolithischen/frühneolithischen Donau-Kultur (Lepenski Vir, Tisza-Kultur, Vinèa-Kultur) wurden zudem zahlreiche, meist bizarre zoo- und anthropomorphe Figuren mit unklarem religiösem Bezug gefunden. Auf dem Gräberfeld von Oleni Ostrov in Karelien fand man vier Schachtgräber, in denen die Toten stehend beigesetzt wurden, und die man daher als Schamanengräber deutet.[48] Weitergehende Schlüsse sind jedoch spekulativ. Ähnliche Probleme bestehen bei der Deutung der Bandkeramiker, Glockenbecherkultur, Schnurkeramik und anderer neolithischer Kulturen in Europa.
Iran, Skythen und Kaukasier
Einige islamische Brauchtümer wie die der Derwische, die sich in ihrer Trance in Vögel verwandeln, gehen möglicherweise auf schamanische Ursprünge aus Zentralasien zurück. Im Zoroastrismus finden sich zentrale sibirisch-schamanistische Konzepte wie die Dreiteilung der Welt und die Überschreitung der Brücke zwischen ihnen erhalten, etwa die haarfeine Brücke Ciunvat, deren Überschreiten allerdings Teil eines Totengerichtes ist, das keinen Bezug zum Schamanismus zulässt.
Ägäis, Kretisch-minoische Kultur, Griechen
Etrusker
Die etruskische Religion war vermutlich stark römisch überformt. In ihrem Zentrum stand die Divination im Rahmen einer Kosmologie, in der das Gefüge der Realität göttlichen Mächten untersteht, die deren Ordnung und Vernunftmäßigkeit garantierten.[59] Der Priester/Seher ist in der Lage, diese Ordnung anhand natürlicher Zeichen zu entschlüsseln und potentiellen Störungen entgegenzuwirken. Die etruskische Religion war eine durch prophetisches Wissen vermittelte, äußerst komplexe Offenbarungsreligion. Aussagen über archaische Einflüsse lassen sich nicht treffen.
Römer
Eliade erwähnt die Römer im Zusammenhang mit dem Schamanismus nicht. Im Prinzip gilt bei ihnen dasselbe wie bei den Etruskern und Griechen: Ihre Religion, die aus altitalischen Ursprüngen stammte und bis zur Entstehung des Kaiserkults sehr konservativ bäuerlich geprägt blieb, enthielt zwar ursprünglich archaische Komponenten aus der Zeit der wildbeuterisch lebenden Vorfahren, die jedoch kulturell sekundär überformt wurden. Dennoch sind diese Reste hier, obwohl stark neolithisch bestimmt, vergleichsweise deutlicher als etwa bei den Griechen. Folgende, archaische Züge ausweisende Indizien lassen sich feststellen:
Ekstasetechniken standen nie im Mittelpunkt der römischen Religion. Die Mysterienkulte der Bakchen, der Orphik oder der Dionysien stammten aus dem orientalischen und hellenistischen Bereich, traten erst während der Kaiserzeit in den Vordergrund und dürften eher auf den neolithischen Kult der Magna Mater zurückzuführen sein.[68]
All diese Indizien zeigen besonders deutlich die in der römischen Religion sehr gut bezeugten Transformationen innerhalb religiöser Entwicklungen von uralten Formen bis hin zu jüngeren, vor allem in Abhängigkeit zur Gesellschafts- und Wirtschaftsform, zumal sich im Falle Roms diese Entwicklungslinien mit griechischen und orientalischen Einflüssen etwa des Mithraskults bis hin zum spätrömischen Atheismus und Christentum weiterverfolgen lassen.[69]
Die Völker dieser Gruppe haben, wenn überhaupt, meist erst gegen Ende der Antike und im Frühmittelalter Staaten gebildet. Häufig waren sie außerdem schriftlos. Es gab zwar innerhalb der Großgruppen stammesübergreifende Kultgemeinschaften, doch keine systematisierten Religionen. Allerdings finden sich bei ihnen, sofern überliefert (wobei die Berichterstatter meist Römer und Griechen waren, die jene Völker als kulturlose Barbaren betrachteten), teils noch sehr alte religiöse Vorstellungen auf indoeuropäischem Hintergrund.[70]
Kelten
Die von den Römern Gallier genannten Kelten, ein Volk unbekannter Herkunft, das abgesehen von kleinen Herrschaftsbereichen einzelner Stammesfürsten (z. B. Hochdorf, Vix) nie einen eigentlichen Staat ausbildete und nur als Sprach- und Kultgemeinschaft auftrat, breiteten sich zwischen dem zweiten vorchristlichen Jahrtausend und dem ersten vorchristlichen Jahrhundert über ganz Europa aus. Die endneolithische Glockenbecherkultur und die bronzezeitlichen Urnenfelderkultur und Hügelgräberkultur werden mit ihnen in Verbindung gebracht. Der erste archäologische Nachweis findet sich in der bereits eisenzeitlichen Hallstattzeit um 700 v. Chr.[71] später in der Latènezeit. Kelten, Slawen und Germanen haben wie die anderen indoeuropäischen Völker viele religiöse Züge gemeinsam, so dass sie hier als nichtmediterrane Kulturkomplexe nacheinander behandelt werden. Kulturell und sozial heben sich die Kelten allerdings durch eine komplexere Struktur von den Germanen und Slawen ab.[72] Die Quellen zur keltischen Religion sind wie die zur etruskischen Religion ähnlich diffus und via antiker Berichterstatter deformiert (z. B. VI. Buch von Caesars Commentarii de bello Gallico, Diodor, Strabo und Poseidonios). Hier sind jedoch archäologische Funde häufiger. Die Religion der Kelten, die mündlich überliefert wurde, lässt sich in ihren Grundzügen wie folgt zusammenfassen:[73]
Jenseits der griechisch-römischen Synkretismen finden sich hier derart viele direkt Elemente in den Ritualen, wie sie den sibirischen Schamanismus kennzeichnen, dass man wie für die germanischen und slawischen Kulte annehmen kann, dass sie – wenigstens in der Frühform – als zumindest randständig davon beeinflusst wurden. Das bestätigt Herodot, dessen einschlägige Darstellungen sich inzwischen in anderen Fällen als weitgehend korrekt erwiesen haben. Er schrieb, die Skythen und ihre Nachbarvölker – wozu auch die Kelten gehörten – sich durch Geisterbeschwörer leiten ließen, die oft aus Scham, dass sie nicht im Kampfe gefallen seien, das Geschlecht wechselten. Darstellungen auf dem Kessel von Gundestrup, der die gehörnte Figur des Cernunnus zeigt, enthalten Szenen, die von einigen Autoren schamanisch interpretiert werden, zumal ähnliche Figuren aus Moldawien und dem Donezbecken überliefert sind.[81] Auch viele keltische Dichtungen beschäftigen sich mit solchen Motiven, etwa mit dem Körperwechsel oder tierischem Bewusstsein.[82]
Germanen
Von Germanen spricht man frühestens ab der Bronzezeit, die in Norddeutschland und Skandinavien etwa um 1600 v. Chr. begann, nachdem der Übergang von der Jagd zur Landwirtschaft um ca. 3000 v. Chr. stattgefunden hatte. Spätestens ab 500 v. Chr. wurden die Germanen zu einer sprachlich und kulturell eigenständigen Gruppe.[83] Aufgrund der ethnischen und geographischen Unterschiede der germanischen Stämme und der Einflüsse durch Kelten, Römer und das Christentum lässt sich allerdings nur sehr bedingt von einer altgermanischen Religion schlechthin sprechen, zumal wenn man die verschiedenen historischen Entwicklungen innerhalb der germanischen Völker mit berücksichtigt. Die Quellen sind ähnlich heterogen wie bei den Kelten (und Slawen), allerdings weit umfangreicher, obwohl unsere Kenntnisse zur germanischen Religion fast ausschließlich isländischen Quellen entstammen. Dennoch sind nicht nur auf den zahlreichen skandinavischen Felsbildern Spuren eines archaischen Totemismus und Animismus festzustellen.[84] Es handelt sich dabei vor allem um folgende Indizien:[85]
Neolithischer Schamanismus kann bei den Protogermanen aufgrund von Felsbildern aus dem 5. vorchristlichen Jahrtausend etwa in Norwegen angenommen werden.[89] Von allen anderen Religionen dieses kulturellen Großraumes zeigt die germanische das stärkste Beharrungsvermögen, so dass noch zahlreiche archaische Elemente lange weitergeführt wurden.[90] Die germanische Religion beruht zwar auf ähnlichen Quellen wie andere indoeuropäische Religionen, ist jedoch unter archaischen Gesichtspunkt ein hochkomplexes Konglomerat aus recht unterschiedlichen Quellen und Traditionen von jägerischen bis zu bäuerlichen Gesellschaften und solchen von Hirtennomaden.[91] Schamanismus war nicht zentral, sondern wie bei den Kelten randständig und nur noch in mythologischen und Brauchtumsresten präsent. Er zeigt aber, wo vorhanden, ein völlig anderes und teilweise archaischeres Bild als etwa bei den Kelten.
Slawen[92]
Die Urslawen sind archäologisch bereits im zweiten vorchristlichen Jahrtausend nachweisbar. Bei Herodot erscheinen sie erstmals im 5. Jahrhundert v. Chr. in der geschriebenen Geschichte unter dem Namen Neuren, einem Volk, das am Oberlauf des Dnjestr siedelte. Diese Proto-Slawen hatten im Norden Kontakt mit den Proto-Balten, im Osten zu den Finnen, im Nordwesten zu den Germanen. Mit all diesen Völkern gab es religiöse Wechselwirkungen. Besondere Bedeutung hatte jedoch der Kontakt mit den iranischen Stämmen, vor allem Skythen und Sarmaten, von denen sie die Vergötterung von Sonne und Feuer übernahmen, dazu später wohl auch den Dualismus des Manichäismus.
Religion und Mythologie der Slawen sind außerordentlich vielfältig. Jeder Stamm besaß seine eigenen Mythen und Götter im Rahmen einer patriarchalischen Sippenordnung. Ihre Überlieferung ist allerdings eher verschwommen und von zunächst bäuerlichen, später zahlreichen christlichen Einflüssen und noch später von nationalen und romantischen Verzerrungen überlagert. Zu mutmaßlich vorhandenen archaischen Resten gibt es folgende Indizien:
Hinweise auf schamanische Praktiken sind vager als etwa bei den Kelten und Germanen. Das beruht jedoch eher auf der problematischen, weil spät und christlich stark überformten Überlieferungslage und der Heterogenität der slawischen Volksgruppen sowie ihrem relativ späten Auftreten als historisch wahrnehmbare Völker und Staaten. Zudem nahmen sie im Verlaufe ihrer ausgedehnten Wanderzüge durch ganz West, Nord- und Südeuropa und bis tief nach Mitteleuropa hinein aus jeweils benachbarten Völkern und Kulturen zahlreiche externe Einflüsse auf. Schon von der Kultur her sind schamanische Elemente in der ohnehin extrem konservativen slawischen Religion[96] als wahrscheinlich anzunehmen, selbst wenn sichere Hinweise auf Ekstasebräuche und Ähnliches fehlen, was auch an der teils rabiaten Verfolgung heidnischer Bräuche etwa durch die Waräger, später die orthodoxe Kirche, schließlich vor allem in den 1930er-Jahren durch den Sowjetkommunismus liegen dürfte.[97]
Im Gegensatz zu den Autoren eines universellen Schamanismus wird dieser Begriff für die präkolumbianischen Religionen von den meisten Ethnologen nicht verwendet. Müller etwa verneint ihn,[10] Zumindest die Existenz verschiedener spiritueller Spezialisten und Heiler ist im gesamten meso- und südamerikanischen Bereich traditioneller Teil der Kulturen.[98] Eliade weist darauf hin, dass bereits die ersten, aus Nordasien kommenden jungpaläolithischen Einwanderer, die irgendwann ab ca. 18.000 B. P. oder auch später den amerikanischen Kontinent besiedelten, eine Urform des sibirischen Schamanismus mitgebracht haben dürften, wie diverse Ähnlichkeiten nahelegen. Dabei fällt vor allem die archaische Struktur der südamerikanischen Schamanentümer auf. Auf jeden Fall präsentiert sich wie in ähnlichen Fällen eine von jägerlichen wie bäuerlichen Elementen durchsetzte, stark konservative Volksreligion. über die sich zu Zeiten der machtpolitischen Entfaltung eine auch schichtspezifisch und ständisch charakterisierbare Hochreligion erhob, in der die archaischen Elemente stark zurückgewichen waren.
Unter der Vielfalt der nicht mehr existierenden präkolumbianischen Hochreligionen seien hier nur die drei wichtigsten genannt: die der Mayas, Azteken und Inkas. Über die mesoamerikanischen Olmeken, Tolteken, Mixteken oder die andinen wie Chavín de Huántar, Paracas, Nazca, Moche oder Chimu ist kaum mehr bekannt, als dass sie denen der drei genannten Hochkulturen relativ ähnlich waren und häufig deren Vorstadien darstellten. Wesentliche Varianten werden jedoch kurz genannt, sofern sie für archaische Bezüge relevant sind.
Die mesoamerikanischen Hochreligionen sind sich in ihren Grundstrukturen trotz abweichender Götterpantheons relativ ähnlich.[99] Die Quellen, vor allem Texte, sind wegen der Zerstörungen durch die spanischen Eroberer und Missionare spärlich, und man ist bei der Deutung weitgehend auf sekundäre spanische Berichte und archäologische Funde angewiesen.
Folgende Gruppierungen ergeben sich historisch und regional (Zeitangaben mit Unsicherheiten):[100]
Dies waren die wichtigsten Völker, die vor allem regional und zu unterschiedlichen Zeiten dominierten. Von den meisten besitzen wir allerdings nur fragmentarische und ausschließlich archäologische Kenntnisse, lediglich Mayas und Azteken sind durch eigene schriftliche Zeugnisse genauer belegt. Die Wechselwirkungen all dieser Kulturen sind jedoch so komplex und teilweise auch ungeklärt, dass hier auf eine Trennung der Kulturbereiche verzichtet wird.
Für den historischen und geographischen Gesamtkomplex Mesoamerikas, der bis in den Norden Südamerikas ausstrahlte, ergeben sich zur Existenz archaisch-religiöser Elemente folgende Indizien:
Wie in zahlreichen anderen alten Religionen gab es in Mittelamerika neben der hochkomplexen und abstrakten Religion der städtischen Elite mit ihren elaborierten Riten und mächtigen aristokratischen Priesterkasten eine beständige, vor allem an Fruchtbarkeitsvorstellungen wie die chac genannten Geister orientierten Volksreligion.[110] Obwohl davon wenig überliefert ist,[111] haben sich Teile davon synkretistisch mit dem Christentum bis heute erhalten. Die Herrenreligion ging mit der Eroberung durch die Spanier unter. Die Volksreligion blieb, lebte unter einem dünnen katholischen Firnis fort und verschmolz teilweise in der Kosmologie und Eschatologie die alten Glaubensvorstellungen mit den neuen.
Bei den andinen Religionen stellen sich die äußeren Verhältnisse und Entstehungsbedingungen ganz ähnlich dar wie bei den mesoamerikanischen: Einige regionale Kulturen bestanden teils nebeneinander oder folgten aufeinander, wurden erobert oder verschmolzen ineinander. Am Ende stand der mächtige, vor allem von der Sonne bestimmte Staatskult der Inkas.
Folgende Gruppierungen ergeben sich historisch und regional (nur die wesentlichen sind genannt, es gab weitere, etwa um den Titicacasee wie Tiwanaku). Bis auf die Inkas sind all diese Kulturräume nur archäologisch erschlossen, etwa über die Keramikstile. Die Knotenschrift Quipu der Inkas war die einzige Schrift im andinen Raum:[112]
Folgende Indizien für archaische Substrate bei den Inkas ergeben sich:[113]
Die Religion der Inkas stellt sich somit ganz ähnlich den Religionen Mesoamerikas als Mischung komplexer Zeremonien, animistisch-totemistischer Glaubensinhalte, unterschiedlicher Formen magischen Denkens und Naturanbetung dar. Sie gipfelte in der Anbetung der Sonne und etablierte sich als Staatsreligion, beherrscht von einer hierarchischen Priesterschaft. Die Volksreligionen vor und nach der Inkaperiode und der spanischen Eroberung blieben als Substrate erhalten und vermengten sich mit der neuen Hoch- und Kolonialreligion, dem Katholizismus.[121]
Schwieriger als bei den alten Kulturen ist die Beurteilung der Situation in Religionen, die heute noch lebendig sind. Die Weltreligionen haben aufgrund ihres synkretistischen Charakters, der schriftlichen Fixierung und der jahrhundertelangen Interpretation eine völlig andere Entwicklung genommen – obgleich etwa Geister, Engel und Dämonen, die nebst zahlreichen anderen archaischen Resten auch in Judentum, Christentum und Islam[122] vorkommen.[123] So zeigen etwa im alten Judentum die dortigen Propheten mit der Art ihrer unausweichlichen Berufung, ekstatischen Zuständen und Traumerlebnissen Elemente, die als schamanische Rituale gedeutet werden können. Die christliche und islamische Hagiographie ist ebenfalls voll von solchen religiös-magischen Geschichten mit dämonischen Folterungen, Himmelfahrten, Unterweltreisen, ekstatischen Situationen, Heilmagie, Totengeleit usw. Zwar kann man sie nicht als schamanisch bezeichnen, doch verschmelzen hier möglicherweise indoeuropäische mit altorientalischen Vorstellungen.[124] Aufgrund all dieser Unsicherheiten sollen vor allem die lebendigen Großreligionen in der Darstellung hier ausgespart werden. Die Diskussion ihrer eventuellen archaischen Überreste dürfte religionsgeschichtlich Ansatzpunkte bieten, jedoch weder sicher beleg- noch ausreichend begründbar sein.
Die folgenden Werke wurden zur Erstellung dieses Artikels herangezogen (OA=Originalausgabe bei älteren Werken):
Allgemeine und spezielle Nachschlagewerke
Schamanismus in Vor- und Frühgeschichte
Schamanismus in historischen und lebenden Religionen, Mythologie
Psychologie, Ethologie, Kulturanthropologie, Religionssoziologie, Neoschamanismus, Sonstiges
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