Suizidalität, auch Suizidgefährdung oder umgangssprachlich Lebensmüdigkeit genannt, ist ein Oberbegriff für Suizide, Suizidversuche, Suizidpläne und Suizidgedanken.[1]

Schnelle Fakten Klassifikation nach ICD-10 ...
Klassifikation nach ICD-10
R45.8 Suizidalität, Suizidgedanken; sonstige Symptome, die die Stimmung betreffen
Z91.5 Parasuizid, Selbstvergiftung, Versuchte Selbsttötung; Selbstbeschädigung in der Eigenanamnese
X70 Vorsätzliche Selbstbeschädigung durch Erhängen, Strangulieren, Ersticken; Vorsätzliche Selbstbeschädigung
ICD-10 online (WHO-Version 2019)
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Lebensmüder, Studie von Ferdinand Hodler, 1882

Ein Suizid ist ein Tod durch selbst ausgeführtes, schädigendes und mit der zu Sterben beabsichtigtes Verhalten. Ein Suizidversuch ist ein selbst ausgeführtes, schädigendes und mit der zu Sterben beabsichtigtes Verhalten, welches aber nicht zum Tod führte. Währenddessen wird mit einem Suizidplan eine Methode formuliert, mit der eine Person sterben möchte. Letztlich sind Suizidgedanken alle Gedanken, Vorstellungen & Überzeugungen hinsichtlich der Beendigung des eigenen Lebens. Zentral für die Differenzierung suizidaler Verhaltensweisen und nichtsuizidaler Selbstverletzungen ist die Intention.[2] Es ist zu beachten, dass der Tod bzw. das Sterben oft gar nicht die zentrale Rolle im Denken suizidaler Menschen spielt, sondern eher das ,,Flüchten von den Lebensproblemen’’ angestrebt wird.[3]

Die Suizidologie beschäftigt sich als wissenschaftliche Fachrichtung mit der Erforschung von Suizidalität und suizidalen Geschehnissen.

Es besteht eine graduelle Differenzierung zwischen Suizidgedanken ohne den Wunsch nach Selbsttötung – die ebenfalls zur Suizidalität zählen – und drängenden Suizidgedanken mit konkreten Absichten, Plänen bis hin zu Vorbereitungen eines Suizids.

Suizidalität ist keine Krankheit, sondern Symptom eines zugrundeliegenden Problems. Sie kann als Zuspitzung einer psychischen Störung bestehen, in der Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit überhandgenommen haben. Suizidale Menschen erleben sich häufig als innerlich zerrissen und stehen ihrem Wunsch zu sterben oftmals ambivalent gegenüber. Einerseits empfinden die Betroffenen ihr Leben als unerträglich leidvoll und wollen es daher beenden, andererseits spüren viele eine Art Selbsterhaltungstrieb, Furcht vor starken Schmerzen im Rahmen eines Suizidversuchs sowie allgemein große Unsicherheit in Bezug auf die Konsequenzen ihres Handelns. Eine Möglichkeit, ihr derzeitiges Leben zu ändern, es neu zu beginnen, ist bei akuter Suizidalität nicht zu erkennen. Für Menschen mit Suizidgedanken erscheint dies der letzte Ausweg zu sein, welcher unveränderbar/unvermeidbar erscheint.

Suizidalität äußert sich bei verschiedenen Menschen auf sehr unterschiedliche Weise. Dadurch ist eine Einschätzung, wie akut und ausgeprägt die Suizidalität einer betroffenen Person ist, oft schwierig. Dieses Problem ist verstärkt, wenn ein Mensch Hilfsangeboten z. B. aufgrund von Scham- oder Schuldgefühlen ablehnend gegenüberstehen. Bei akuter Suizidalität, in der der Betroffene möglicherweise bereits konkrete Pläne und Vorbereitungen getroffen hat, sich von seinen Absichten nicht distanzieren und keine Absprachen eingehen kann (z. B. versichern, am nächsten Tag den Therapeuten anzurufen), liegt im Rahmen der Fürsorgepflicht eine Indikation für die Zwangseinweisung in eine psychiatrische Klinik vor.

Bei der Einschätzung bzw. Diagnostik der Suizidalität sind folgende Gesichtspunkte von Bedeutung:[4]

  • Präsuizidales Syndrom: Einengung, Aggressionsumkehr, Suizidfantasien
  • Risikofaktoren: Psychische Krankheit (insbesondere Depression, Sucht oder Schizophrenie in der akuten Phase), psychosoziale Krisen (Trennung, Tod einer nahestehenden Person), wenig soziale Beziehungen, vorhergehende Suizidversuche, Suizide in der Familie
  • Aktuelle Befindlichkeit: Hoffnungslosigkeit, Angst, Schlaflosigkeit, Freudlosigkeit, Impulsivität und akute Lebensbelastungen: gestörte Krankheitsverarbeitung, unerträgliche Erinnerungen, negative Einschätzung der Lebensumstände, Resignation
  • Trennungserfahrungen: gescheiterte Partnerschaft, Tod eines Angehörigen, Kränkung, Entwicklungskrisen, Entlassung aus stationärer psychiatrischer und psychotherapeutischer Behandlung

Epidemiologie

Nach Angaben der World Health Organization (WHO) nehmen sich weltweit in etwa 1 Mio. Menschen/Jahr das Leben. Suizide machen damit 1,5 % aller Todesfälle weltweit aus. In Deutschland nimmt die Suizidrate – wie in den meisten Ländern weltweit – mit dem Lebensalter zu.[5] Über alle Altersgruppen hinweg werden Suizide häufiger von Männern als von Frauen begangen (Verhältnis Männer und Frauen 3:1). Geschlechterübergreifend ist das Erhängen die häufigste Suizidmethode. Währenddessen werden Suizidversuche häufiger von Frauen als von Männern begangen.[6] Mit zunehmendem Alter steigt die Rate der Suizide und nimmt die Rate der Suizidversuche deutlich ab.[7]

Fragebögen zur Einschätzung der Suizidalität

Es gibt mehrere Fragebögen zur Selbst- und Fremdbeurteilung:[8]

  • NGASR – Nurses Global Assessment of Suicide Risk (16 Fragen)[9]
  • SSF-II – Suicide Status Form[10]
  • BSSI – (19 Fragen)
  • Beck Skala für Selbstmordgedanken (SBQ-R|SBQ-R, Fragebogen zur Erfassung suizidalen Verhaltens (4 Fragen))
  • Reasons for Living Inventory (RFL)
  • Beck Hoffnungslosigkeitsskala (BHS)
  • INQ – Interpersonal Needs Questionnaire
  • ACSS – Acquired Capability for Suicide Scale
  • TASR – Tool for Assessment of Suicide Risk[11]
  • SSI – Scale for Suicidal Ideation (19 Fragen)[12]
  • SIS – Suicide Intent Scale (15 Fragen)[12]
  • LSARS – Lethality of Suicide Attempt Rating Scale[12]
  • LASPC – Los Angeles Suicide Prevention Scale[12]
  • SDPS – Suicidal Death Prediction Scale[12]
  • SD – SAD Persons Scale[12]
  • SIQ – Suicidal Ideation Questionnaire[12]
  • SRAS – Suicide Risk Assessment Scale[12]
  • SASR – Scale for Assessing Suicidal Risk[12]
  • SPS – Suicide Probability Scale[12]

Ätiologiemodelle

Es gibt verschiedene Modelle zur Entstehung suizidaler Gedanken oder suizidalen Verhaltens:[13][14]

  • Phasenmodell der suizidalen Entwicklung (Pöldinger 1968)[15]
  • Cubic Model of Suicide (Shneidman, 1989)
  • Escape-Theorie (Baumeister, 1990)
  • Cry of Pain-Modell (Williams 2001)
  • Fluid Vulnerability Theory of Suicide (Rudd, 2006)
  • Kognitives Modell suizidaler Handlungen (Wenzel und Beck, 2008)
  • Interpersonale Theorie suizidalen Verhaltens (Joiner 2005): Passive Suizidwünsche könnten entweder durch fehlendes Zugehörigkeitserleben zu einer Gruppe oder die Annahme, eine Last für andere zu sein, entstehen. Lägen beide Komponenten zugleich vor, könnten sich aktive Suizidwünsche entwickeln. Ausschlaggebend dafür, ob ein Suizidversuch unternommen würde, sei, ob als dritte Komponente eine Furchtlosigkeit vor Schmerz, Sterben und Tod besteht. Diese Furchtlosigkeit vor Schmerz und Tod könne eventuell durch Gewöhnung (Habituation) an wiederholt erlebte schmerzhafte oder ängstigende Erfahrungen entstehen, wie Selbstverletzung, Traumatisierungen oder Drogenmissbrauch.
  • Integratives motivational-volitionales Modell suizidalen Verhaltens (O’Connor, 2011)

Therapie

Zur psychotherapeutischen Behandlung von Suizidalität gibt es verschiedene Ansätze:

  • Motivierende Gesprächsführung[16][17]: Hierbei soll versucht werden, vergessene Gründe für das Leben wieder herauszuarbeiten oder neue Gründe zu entwickeln. Britton, Patrick, Wenzel und Williams (2011)[18] schlagen vor, zunächst die Gründe für das Sterben und gegen das Leben zu erkunden, um die Aufnahmebereitschaft des Patienten zu erhöhen und erst im zweiten Schritt die Gründe für das Leben und gegen das Sterben zu erfragen. Um Gründe für das Leben zu entwickeln, können ergänzende Strategien eingesetzt werden, beispielsweise zu fragen, wie ein gutes Leben später aussehen würde oder ob es Momente gab, in denen das Leben wichtiger war. Auch die Frage, wie wichtig das Leben auf einer Skala von 0 (gar nicht wichtig) bis 10 (extrem wichtig) ist, kann den Einstieg in die Exploration von Gründen zu Leben bieten. Wenn eine Zahl größer 0 genannt wird, kann gefragt werden, aus welchen Gründen keine 0 gewählt wurde. Wurde 0 genannt, lässt sich fragen, was sich ändern müsste, damit man einen höheren Wert wählen würde.[8]
  • Kognitive Therapie suizidalen Verhaltens nach Wenzel, Brown und Beck (2009)[19]
  • Verhaltenstherapeutische Strategien wie Kontingenzmanagement oder Stimuluskontrolle[20]: Im Rahmen der Dialektisch-Behavioralen Therapie[21][22] (DBT) wird in einer Verhaltensanalyse zunächst untersucht, ob Suizidgedanken, die Mitteilungen oder die Vorbereitungen zu einem Suizid operantes oder respondentes Verhalten darstellen. Häufig seien bei Borderline-Patienten suizidale Verhaltensweisen sowohl respondent als auch operant. Bezüglich operantem Verhalten werden Strategien wie Kontingenzmanagement eingesetzt. Hierbei sei zu bedenken, eine bestimmte Reaktion könne zwar das kurzfristige Suizidrisiko verringern, jedoch die Wahrscheinlichkeit für einen zukünftigen Suizid durch positive Verstärkung langfristig erhöhen. Deswegen müsse das Verhalten umso aktiver sein, je höher das Suizidrisiko ist. Eine Schwierigkeit bestünde darin, dass die Patienten ihr Verhalten immer soweit verstärken könnten, bis der Therapeut doch interveniert. Weil bei neuen Patienten noch nicht bekannt ist, ob das Verhalten operant ist und welche Funktion es hat, müsse das Vorgehen anfangs viel konservativer und aktiver sein, um das kurzfristige Suizidrisiko gering zu halten. Bei respondentem suizidalem Verhalten sollte der Therapeut die auslösenden Ereignisse beenden sowie vermitteln, wie der Patient diese Ereignisse zukünftig vermeiden kann (Stimuluskontrolle) und alternatives Verhalten verstärken. Die Ergebnisse einer Meta-Analyse von 2021 deuten jedoch darauf hin, dass DBT zwar selbstverletzendes Verhalten reduzieren und Depressionen verbessern kann, aber die Auswirkungen auf Suizidgedanken unbedeutend sind.[23]

Literatur

  • T. Forkmann, T. Teismann, H. Glaesmer: Diagnostik von Suizidalität. Hogrefe Verlag, Göttingen 2016, ISBN 978-3-8017-2639-3.
  • Thomas Bronisch, Paul Götze, Armin Schmidtke u. a. (Hrsg.): Suizidalität. Ursachen, Warnsignale, therapeutische Ansätze. Schattauer, Stuttgart 2002, ISBN 3-7945-2008-4.
  • Heinz Henseler, Christian Reimer (Hrsg.): Selbstmordgefährdung. Zur Psychodynamik und Psychotherapie. Stuttgart-Bad Cannstatt 1981.
  • Heinz Henseler: Narzisstische Krisen. Zur Psychodynamik des Selbstmords. Wiesbaden 1974.
  • Walter Pöldinger: Die Abschätzung der Suizidalität. Huber, Bern 1969.

Einzelnachweise

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