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Personale Medizin bezeichnet ein Programm, das eine Fortentwicklung der integrierten Psychosomatik darstellt und darauf ausgerichtet ist, theoretische Konzepte aus den Bereichen der Philosophie, Anthropologie, Psychosomatik, Tiefenpsychologie und Psychiatrie mit Befunden der modernen biomedizinischen Forschung (u. a. Molekularbiologie, Genetik, Neurowissenschaften) zu verknüpfen und in die klinische Praxis und Ausbildung von Heilberufen zu integrieren.[1] Ferner stellen auch die Kulturanalyse und -kritik wesentliche Bestandteile dar.[2] Die Personale Medizin leitet sich hierbei fundamental aus der universitären Schulmedizin ab und distanziert sich entschieden von para- oder alternativmedizinischen Ansätzen.[3]
Während die insbesondere im angelsächsischen Raum verbreiteten Konzepte der Person-centered Medicine[4][5][6] und Person-centered Care[7] mit der Personalen Medizin verwandt sind, beschreibt der Begriff der Personalisierten Medizin ein separates Konzept, das sich zumeist auf eine für Patienten individuell maßgeschneiderte Pharmakotherapie bezieht.
Es wird angenommen, dass der Begriff Personale Medizin erstmals 1940 von dem Schweitzer Arzt Paul Tournier (1898–1986) als Medicine de la personne geprägt wurde.[8] Im deutschsprachigen Raum wurde das Konzept einer personalen Heilkunde erstmals formal 1997 von den Ärzten Josef Rattner und Gerhard Danzer beschrieben.[9] Schon vorher stellte Rattner, der Begründer der Großgruppentherapie, das Thema des Personalismus ins Zentrum seiner psychotherapeutischen und medizinischen Arbeit. Von 1992 bis 2009 erarbeitete Danzer in seiner Funktion als leitender Oberarzt und Stiftungsprofessor an der Medizinischen Klinik mit Schwerpunkt Psychosomatik der Charité Berlin praktisch-klinische und theoretische Aspekte der Personalen Medizin, die er schließlich 2013 in seinem Buch Personale Medizin veröffentlichte.[10][11]
Eine zentrale philosophische Einflussgröße der Personalen Medizin ist der Personalismus, der insbesondere im Frankreich des frühen 20. Jahrhunderts an Bedeutung gewann. Als prominentester Vertreter der personalistischen Bewegung gilt der Philosoph Emmanuel Mounier, der sich vorrangig als Herausgeber der Zeitschrift Esprit sowie als Autor des Personalistischen Manifests hervortat, in dem er eine Definition des Personenbegriffs formuliert und die Werte der geistigen Freiheit und der Gemeinschaft zu obersten Prioritäten erklärte, die es der Person ermöglichen, ihre sinnstiftende Berufung zu erkennen und stets zu verfolgen.[12] Hiermit sollte der Personalismus eine Alternative zu individualistischen, faschistischen und kommunistischen Theorien des Menschen bieten.
In der Philosophie des deutschen Sprachraums wurden die Begriffe der Person und der Personalität u. a. von Max Scheler[13][14] und Nicolai Hartmann[15][16] unter Aspekten der Ethik, Axiologie und philosophischen Anthropologie bedacht. Auch Mediziner wie Friedrich Kraus[17], Theodor Brugsch[18] oder Oswald Schwarz[19] befassten sich explizit und implizit mit diesen Konzepten und machten erste weitestgehend theoretische Versuche, sie in die medizinische Diagnostik und Therapie zu integrieren.
Der Personalismus und seine oben genannten Vertreter zeigten ihrerseits große Nähe zu Ideen der Lebensphilosophie[20] (Friedrich Nietzsche, Wilhelm Dilthey, Henri Bergson), Phänomenologie[21] (Edmund Husserl, Maurice Merleau-Ponty) und Existenzphilosophie[22] (Sören Kierkegaard, Martin Heidegger, Karl Jaspers, Jean-Paul Sartre) und verbanden diese mit Modellen und Erkenntnissen der damals modernen Biologie[23] (Hans Driesch, Adolf Portmann, Jakob Johann von Uexküll) sowie der neueren philosophischen Anthropologie[24] (Helmuth Plessner, Frederic Buytendijk, Arnold Gehlen). Dieser im Personalismus verwirklichte Versuch, eine Kommunikation zwischen – und Synthese aus – moderner Biomedizin und philosophisch-anthropologischen Überlegungen zu ermöglichen, macht ihn zu einem wichtigen Wegbereiter der Personalen Medizin des 21. Jahrhunderts.
Ein grundlegendes Paradigma der Personalen Medizin ist die Notwendigkeit, das Unbewusste in die Entwicklung von ätiologischen, diagnostischen und therapeutischen Hypothesen einzubeziehen. Diese Anschauung geht auf die am Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelten Lehren von Sigmund Freud, Alfred Adler und C.G. Jung zurück, die allgemein als Begründer der Tiefenpsychologie gelten. Zudem bedient sich die Personale Medizin den teilweise in ihrem Inhalt sehr unterschiedlichen Konzepten und Ideen späterer Tiefenpsychologen wie Karen Horney, Erik H. Erikson, Erich Fromm, Frieda Romm-Reichmann, Harry Stuck Sullivan, Harald Schultz-Hencke und Donald Winnicott, die sich jedoch allesamt zur Relevanz des Unbewussten für Individuen und Beziehungsdynamiken bekennen. In seinem Buch Personale Medizin unterstreicht Gerhard Danzer diesen Punkt wie folgt[25]:
Ferner betont Danzer, dass in der Personalen Medizin nicht nur die Beziehung zwischen Patient und Psychotherapeut, sondern auch die Arzt-Patienten-Beziehung[26], die nach seiner Einschätzung allgemein zu wenig Beachtung erfährt, unter Aspekten der tiefenpsychologischen Diagnostik untersucht werden sollte.
Die wohl wichtigste Vorform der Personalen Medizin stellt die Psychosomatik und das aus ihr hervorgehende biopsychosoziale Modell von Krankheit und Gesundheit[27][28] dar. Dieses Modell postuliert, dass Krankheit und Gesundheit keine Zustände, sondern vielmehr Funktionen eines dynamischen Geschehens auf vielen parallel geschalteten Ebenen des Systems „Mensch“ darstellen. Nach dieser Theorie entsteht Krankheit dann, wenn die autoregulativen Fähigkeiten des Individuums zur Bewältigung einer Störung auf einer beliebigen Ebene nicht gegeben sind. Demnach ist Gesundheit nicht bloß die Abwesenheit von Krankheit, sondern muss in jeder Sekunde des Lebens „geschaffen“ werden.[29] Während die erste umfassende Formulierung des vorgenannten Modells allgemein dem US-amerikanischen Psychiater George Libman Engel zugeschrieben wird[30], sah das frühe 20. Jahrhundert eine Reihe von Psychosomatikern, die sich bereits um die Integration von körperlichen, seelischen und sozialen Aspekten in die Diagnostik und Behandlung von Personen bemühten und sich dieser Betrachtung jeweils aus verschiedenen Disziplinen näherten:
Die Personale Medizin zählt es zu ihren Aufgaben, Räume zu schaffen, in denen diese Vielfalt von Konzepten und Ideen aus Philosophie, Anthropologie, Psychosomatik, Tiefenpsychologie und Psychiatrie in eklektischer Weise ausgewählt, geprüft und mit den durch evidenzbasierten Methoden gewonnenen Erkenntnissen aus Molekularbiologie, Genetik und Neurowissenschaften verbunden werden.[49]
Die Personale Medizin legt großen Wert auf die geistig-kulturellen Aspekte von Krankheit und Gesundheit und sieht die Notwendigkeit, das in der Medizin allgemein anerkannte und implementierte biopsychosoziale Modell um die geistig-kulturelle Dimension zu ergänzen, die Gerhard Danzer unter dem semantisch breit gefächerten Begriff Logos subsumiert.[50] Hierbei bedient sie sich der Methodik der Kulturanalyse und Kulturkritik und bekennt sich in ihrer Haltung zu den Prinzipien des Humanismus und Skeptizismus. Humanistische Einflüsse der Personalen Medizin reichen u. a. von Denkern der Renaissance (Dante Alighieri, Francesco Petrarca, Gianfrancesco Pico della Mirandola, Michel de Montaigne, Thomas Morus, Erasmus von Rotterdam) über Vertreter des Neuhumanismus des 18. Jahrhunderts (Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich Schiller, Johann Gottfried Herder, Christoph Martin Wieland, Friedrich Wilhelm von Humboldt, Alexander von Humboldt, Gotthold Ephraim Lessing), bis hin zu humanistischen Ideen des 20. Jahrhunderts, wobei insbesondere Jean-Paul Sartre zu erwähnen ist, der seine Idee des Existenzialismus als befreiende und letztlich humanistische Philosophie charakterisiert.[51]
Wesentlich sind überdies gewisse Prägungen der Ideologie- und Vorurteilskritik, die bis auf Francis Bacon zurückgeht und von Ideengebern wie Jean-Jacques Rousseau, Ludwig Feuerbach, Max Stirner, Friedrich Nietzsche, Max Horkheimer und Sigmund Freud[52] ergänzt wurde.
Die personale Medizin basiert auf einem integrativen Ansatz, der vier Dimensionen des menschlichen Seins umfasst: Materie (Hyle), Leben (Bios), Seele (Psyche) und Geist (Logos). Es handelt sich hierbei um keine dualistische Sichtweise; vielmehr sind die Dimensionen untrennbar miteinander verbunden. In diesem Zusammenhang spielt das Konzept des Embodiment (Verkörperung)[53] eine zentrale Rolle. Es betont, dass geistige Prozesse untrennbar mit dem jeweiligen Organismus verbunden sind und sich in ihm manifestieren. Dieser Gedanke des verkörperten Geistes ist insbesondere in der Philosophie von Maurice Merleau-Ponty prominent vertreten.[54] Danzer postuliert, dass frühere Paradigmen der Medizin insbesondere die geistig-kulturellen Aspekte (Logos) von Personen zugunsten anderer Schwerpunkte übersehen hätten.[55] So habe es im 19. Jahrhundert, im Zuge des Aufstiegs der Naturwissenschaften, vor allem eine Fokussierung auf die Dimensionen Hyle und Bios gegeben, was zu einer Vernachlässigung psychosozialer und geistiger Aspekte geführt hätte. Inspiriert durch rationalistische Vordenker der Aufklärung wie René Descartes, wurde der Körper zunehmend als eine Art „(l’)homme machine“[56] betrachtet. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts erfolgte mit Sigmund Freud und der aufkommenden Tiefenpsychologie ein Paradigmenwechsel, bei dem Psyche und Logos in den Vordergrund rückten. Allerdings seien in diesem Kontext wiederum die somatischen Aspekte der Patienten oft ausgeklammert worden. Später versuchten die Vertreter der psychosomatischen Medizin, wie Viktor von Weizsäcker, sowohl körperliche als auch psychische Aspekte zu integrieren, woraus sich schließlich das biopsychosoziale Modell ergab. Trotz dieser Fortschritte sieht Danzer die geistig-kulturellen Facetten der Person (Logos) auch in diesem heilkundlichen Ansatz unterrepräsentiert.
Zur Erfassung geistig-kultureller Funktionen von Personen werden in der personalen Medizin u. a. folgende Aspekte und Hypothesen bedacht[57]:
Die Personale Medizin hält dazu an, medizinische Praxis als bi-perspektivische Simultandiagnostik- bzw. Therapie zu realisieren. So sollten in möglichst vielen Kontexten der Behandlung möglichst zeitlich und räumlich parallel, sowohl biomedizinische, eher nomothetisch und erklärend orientierte, Verfahren und Perspektiven zur Anwendung kommen als auch solche, die psychosozial und damit eher verstehend und idiographisch geprägt sind.[71]
Von 1992 bis 2009 erarbeitete Danzer in seiner Funktion als leitender Oberarzt und Stiftungsprofessor an der Medizinischen Klinik mit Schwerpunkt Psychosomatik der Charité Berlin praktisch-klinische und theoretische Aspekte der Personalen Medizin, die laut ihm bereits in dieser Phase klinisch erprobt wurden.[72]
An den Ruppiner Kliniken, die seit Mai 2022 den Namen Universitätsklinikum Ruppin-Brandenburg[73] tragen, wurden von 2003 bis 2019 die Theorie und Praxis der Personalen Medizin im Rahmen der Medizinischen Klinik für Psychosomatik unter Leitung von Gerhard Danzer angewandt und weiterentwickelt.
Das Konzept sei in diesem Zusammenhang maßgeblich in Kooperation mit verschiedenen somatischen Fachrichtungen der Ruppiner Kliniken umgesetzt worden.[74]
Das Klinikum Schloss Lütgenhof ist eine 2019 gegründete Akutklinik für Personale Medizin und integrierte Psychosomatik, die auf dem Grundstück des Herrenhauses Schloss Lütgenhof bei Dassow im Landkreis Nordwestmecklenburg betrieben wird.
Gerhard Danzer bezeichnet die Personale Medizin als ein Programm und spricht sich dafür aus, dass die verschiedenen Säulen der Personalen Medizin (Biomedizin, Psychologie, Anthropologie, Philosophie, Kulturanalyse- und Kritik) in die Ausbildung aller im Medizinalsystem tätigen Personen zu integrieren.[75] Im Jahr 2014 wurde die Medizinische Hochschule Brandenburg Theodor Fontane (MHB) gegründet, an der ab dem Sommersemester 2015 Studierende in den Fächern Humanmedizin und Psychologie ausgebildet wurden. In den ersten Jahren der universitären Betriebs orientierte sich die Lehre in diesen Fächern maßgeblich an Prinzipien der Personalen Medizin.[76] Gerhard Danzer, ein Gründungsmitglied der MHB, verließ die Hochschule im Rahmen einer Neustrukturierung im Jahr 2019.[77]
Das Klinikum Schloss Lütgenhof stellt offizielle Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten in den Bereichen klinische Psychologie, Innere Medizin, Psychiatrie, Psychosomatische Medizin[78] und diversen kreativtherapeutischen Studiengängen bereit und kooperiert in diesem Rahmen mit der Medizinischen Hochschule Brandenburg und der Medical School Hamburg.[79]
Im Jahr 2023 wurde die Arbeitsgruppe für Geschichte, Anthropologie und Philosophie (in) der Psychosomatik gegründet, die sich „die Reflexion und Integration historischer, anthropologischer und philosophischer Fragestellungen und Konzepte (in) der Psychosomatik“ zur Aufgabe macht[80] und somit im Einklang mit den Prämissen der Personalen Medizin steht. Die Gruppe weist eine Reihe von Publikationen in den Bereichen Philosophie[81], Philosophische Anthropologie[82] und Neuropsychiatrie[83] auf und veranstaltete 2023 ihr erstes Symposium mit dem Titel „Nunc stans oder Tempus fugit“ im Rahmen des Deutschen Kongress für Psychosomatik und Psychotherapie.[84]
Helmut Albrecht kritisierte die Erstausgabe von Gerhard Danzers Personale Medizin in einem Beitrag für die Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen für seine ideologischen Überzeugungen, insbesondere die Verknüpfung von Gesundheit und Tugend. Er sieht in Danzers Ansatz eine elitäre, fast totalitäre Haltung, die wissenschaftliche Empirie zugunsten von kulturphilosophischen Überhöhungen vernachlässigt und sich zu stark auf die Eminenz einzelner Personen beruft.[85]
Eine Rezension der taz bewertet Gerhard Danzers Buch zur personalen Medizin grundsätzlich positiv, hebt aber hervor, dass der beschriebene Ansatz, den ganzen Menschen in Diagnose und Therapie einzubeziehen, an sich nichts Neues sei. Kritisch wird angemerkt, dass Danzers Forderung nach mehr Zeit für Patienten in einer zunehmend ökonomisierten Medizin zwar wünschenswert, aber schwer umsetzbar ist. Die Bewertung bleibt dennoch wohlwollend und sieht in Danzers Ansatz eine wertvolle Alternative zu rein technischen Diagnoseverfahren.[86]
Im Deutschen Ärzteblatt wird Gerhard Danzers Buch als praxisnah und philosophisch fundiert beschrieben. Der Rezensent lobt die verständliche Darstellung klinischer Beispiele und hebt den beträchtlichen Erkenntnisgewinn für Leser hervor. Kritisch hinterfragt wird jedoch die Abgrenzung zur evidenzbasierten und narrativen Medizin, wobei der praktische Nutzen für klinisch aktive Ärzte deutlich anerkannt wird.[87]
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