Loading AI tools
atypischer Sachverhalt Aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Ein Härtefall ist ein atypischer Sachverhalt, der erheblich vom gesetzlich vorgesehenen Normalfall abweicht und deshalb Ausnahmeregelungen oder -entscheidungen gerechtfertigt erscheinen lässt. Bei dem Begriff Härtefall (oder auch Härte) handelt es sich um einen unbestimmten, allgemein formulierten Rechtsbegriff, der bei der Rechtsanwendung im Einzelfall präzisiert werden muss. Die Rechtsanwendung unterliegt, anders als Ermessensentscheidungen, der uneingeschränkten richterlichen Überprüfung.
Der Gesetzgeber kann kraft seines verfassungsrechtlichen Gestaltungsauftrags grundsätzlich frei entscheiden, an welche tatsächlichen Verhältnisse er bestimmte Rechtsfolgen anknüpft und wie er Personengruppen definiert, denen er bestimmte Vergünstigungen zukommen lassen will. Dabei ist er insbesondere bei Massenerscheinungen befugt, zu generalisieren, typisieren und pauschalieren selbst dann, wenn die damit verbundenen Härten lediglich eine verhältnismäßig kleine Zahl von Personen betreffen und diese nicht sehr intensiv belasten.[1] Ein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz liegt dann erst vor, wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu einer anderen Gruppe abweichend behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen objektiv keine Unterschiede bestehen, die eine ungleiche Behandlung rechtfertigen können.[2] Mit Härtefallregelungen soll ein bestimmter Personenkreis begünstigt werden. Sie stellen eine gesetzliche Ausprägung des verfassungsrechtlichen Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit dar.[3] Härtefallregelungen sollen gewährleisten, dass auch in Ausnahmefällen, die wegen ihrer atypischen Ausgestaltung nicht im Einzelnen vorhersehbar sind und sich deshalb nicht mit den abstrakten Merkmalen der Gesetzessprache erfassen lassen, ein Ergebnis erzielt wird, das dem Normergebnis in seiner grundsätzlichen Zielrichtung gleichwertig ist.[4]
Insbesondere Leistungsgesetze (etwa das Sozialgesetzbuch SGB, Bundessozialhilfegesetz BSHG), sozialorientierte Bestimmungen (etwa das Mietrecht des BGB, BAföG) oder personenschützende Normen (Härtefallkommission im Ausländerrecht) beschreiben Norm- oder Regeltatbestände, die überwiegend zur Anwendung kommen. Entweder sehen sie von vorneherein hiervon abweichende Ausnahmesituationen vor oder diese werden durch die Rechtsprechung geschaffen. Diese Ausnahmesituationen werden dann als Härtefallregelung bezeichnet.
Aus der Vielzahl gesetzlicher Regelungen werden vier herausgegriffen, um an ihrem Beispiel die Härtefallregelungen zu demonstrieren:
Insbesondere das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) als oberste Instanz für öffentlich-rechtliche Streitigkeiten und das Bundessozialgericht (BSG) als oberste Instanz der Sozialgerichtsbarkeit haben in der Vergangenheit in zahlreichen Urteilen Stellung zu Härtefallfragen genommen. Die Verwaltungs- und Sozialgerichte haben bezüglich der Härtefalltatbestände eine umfangreiche Rechtsprechungstradition entwickelt. In ständiger Rechtsprechung subsumiert das BVerwG unter den Begriff Härtefall einen atypischen Sachverhalt, der sich aus dem Regelungsinhalt der betreffenden Vorschrift in Verbindung mit den Besonderheiten des Einzelfalls ergeben muss.[7] Dabei muss eine objektive Härte feststellbar sein. Diese liegt aber nicht schon dann vor, wenn eine Entscheidung von dem betroffenen Bürger subjektiv als zu hart empfunden wird. Ferner geht das BVerwG davon aus, dass eine Härte im Sinne von § 26 Abs. 1 Satz 2 BSHG a. F. nur vorliege, wenn die Folgen des Anspruchsausschlusses über das Maß hinausgingen, das regelmäßig mit der Versagung von Hilfe zum Lebensunterhalt für eine Ausbildung verbunden ist und vom Gesetzgeber bewusst in Kauf genommen wurde.[8] Auch das BSG rekurriert auf atypische Sachverhalte, die von der Normregelung abweichen. Eine Härte kann nur angenommen werden, wenn Atypizität vorliegt, "das heißt es muss ein außergewöhnlicher Sachverhalt vorliegen, der vom Gesetzgeber nicht in die enumerative Aufzählung des § 90 Abs. 2 SGB XII aufgenommen werden konnte".[9]
Der Begriff Härtefall wird durch die Rechtsprechung noch durch den Zusatz „besonderer“ oder unbilliger Härte gesteigert. Hier ist zusätzlich zu prüfen, ob durch die Anwendung einer Vorschrift die betroffene Person in ihrer spezifischen Situation besonders hart getroffen würde. Ein „besonderer Härtefall“ liegt demnach vor, wenn die Regelvorschrift jemand übermäßig hart und unzumutbar oder in hohem Maße unbillig trifft. Ein besonderer Härtefall liegt nach ständiger Rechtsprechung nur dann vor, wenn außergewöhnliche, schwerwiegende, atypische und möglichst nicht selbstverschuldete Umstände vorliegen oder diese eine sonstige Notlage hervorrufen würden.[10]
Daneben wird noch die „schwere Härte“ unterschieden, die eine weitere Steigerung der „unbilligen Härte“ ist (siehe § 1568a BGB).
Sehen die Gesetze ausdrücklich Härtefallregelungen vor und zählen einzelne Tatbestände sogar auf, darf die Härtefallregelung nicht zu einer Umgehung oder Erweiterung der Systematik der Befreiungstatbestände führen. Dies verbietet die Auslegung von Gesetzen, weil der Gesetzgeber durch eine enumerative Aufzählung zu erkennen gegeben hat, dass er eine Ausdehnung des Anwendungsbereichs auf ähnliche, nicht genannte Fälle nicht zulässt ("enumeratio ergo limitatio"; siehe Gesetzeslücke).
Hat der Gesetzgeber lediglich eine Norm vorgegeben, ist die Rechtsprechung gefordert, diese auf der Grundlage der Rechtsprechung in restriktiver Weise durch analoge Härtefallentscheidungen zu konkretisieren. Insbesondere Gesetze mit Massenwirkung sind auf generalisierende und pauschalierende Regelungen angewiesen. Im Interesse der Praktikabilität und Verwaltungsvereinfachung werden dann pauschalierende Regelungen geschaffen, die naturgemäß nicht in jedem Fall Einzelfallgerechtigkeit herstellen, sondern lediglich Typengerechtigkeit erreichen sollen.[6]
Mit der Härtefallregelung sollen individuelle Nachteile oder Schwächen, die durch die Anwendung der Normtatbestände entstehen oder verschärft würden, ausgeglichen werden. Die Zulassung von Härtefallregelungen ermöglicht dadurch einerseits die Berücksichtigung individueller Besonderheiten, erhöht jedoch andererseits den Verwaltungsaufwand und fördert eine kasuistische Rechtsprechung. Diese Belastungen sind jedoch aus dem verfassungsrechtlichen Gleichheits- und Sozialstaatsprinzip geboten.
Seamless Wikipedia browsing. On steroids.
Every time you click a link to Wikipedia, Wiktionary or Wikiquote in your browser's search results, it will show the modern Wikiwand interface.
Wikiwand extension is a five stars, simple, with minimum permission required to keep your browsing private, safe and transparent.