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Sprachatlas der Dialekte im Deutschen Reich Aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Der Deutsche Sprachatlas (DSA) ist ein Sprachatlas der Dialekte, die im ehemaligen Deutschen Kaiserreich sowie in angrenzenden Regionen gesprochen werden, und ist zugleich Namensgeber für das heute dahinter stehende Institut, das Forschungszentrum Deutscher Sprachatlas der Universität Marburg.
Der DSA (Werk und Institut) geht auf den von Georg Wenker (1852–1911) seit 1876 vorbereiteten und ab 1878 erhobenen Sprachatlas des Deutschen Reichs zurück.[1] Mit seinen über 40.000 Erhebungsorten (und weiteren Orten aus den Nacherhebungen in deutschen Sprachgebieten außerhalb des Deutschen Reichs) stellt er die umfassendste Gesamterhebung der Dialekte einer Sprache weltweit dar. Unter dem Projektnamen Digitaler Wenker-Atlas (DiWA) wurde das Material im Internet zugänglich gemacht; heute ist es unter Regionalsprache.de (REDE) einsehbar.
Der DSA verwendete die Methodik der indirekten Befragung. Die Erhebung wurde durchgeführt, indem an die Lehrer sämtlicher Schulorte ein Fragebogen mit Sätzen geschickt wurde, die in den örtlichen Dialekt übersetzt werden sollten. Die Sätze waren so zusammengestellt, dass typische lautliche und ausgewählte grammatische Eigenschaften der betreffenden Dialekte in der Übersetzung hervortreten mussten. Wurde beispielsweise im Fragebogen das Wort Äpfelchen vorgegeben, so war zu erwarten, dass in Gebieten, in denen sprachhistorisch der Plosiv /p/ nicht zur Affrikate /pf/ verschoben wurde, die Schüler eine Form mit inlautendem /p/ schreiben würden. In der Summe solcher Dialektmerkmale sollten sich einzelne Sprachlandschaften voneinander abgrenzen lassen.
Die Erhebung wurde in verschiedenen Etappen mit unterschiedlichen Fragebogen durchgeführt: die nähere und weitere Umgebung Düsseldorfs im Jahr 1876 mit einem Fragebogen, der 42 Sätze umfasste (rheinische Sätze). 1877 wurde ganz Westfalen erhoben mit einem Bogen, der 38 Sätze umfasste (westfälische Sätze), 1879 und 1880 Nord- und Mitteldeutschland mit einem Bogen mit 40 Sätzen („Wenkersätze“ im eigentlichen Sinne). Bis 1887 folgte die Erhebung Süddeutschlands mit einem Bogen, in dem zusätzlich zu den 40 Wenkersätzen noch einzelne Stichwörter abgefragt wurden (z. B. Wochentage, Zahlwörter).
Nach Abschluss der Erhebungen im Deutschen Reich 1887 lagen insgesamt 44.251 Fragebogen aus 40.736 Schulorten vor. Für die deutschen Sprachgebiete außerhalb des Deutschen Reiches wurden eigene Nacherhebungen vorgenommen: 1888 in Luxemburg (325 Bogen), von 1926 bis 1933 im Sudetenland (2.854 Bogen), in Österreich (3.628 Bogen), in Liechtenstein (24 Bogen), im Burgenland (28 Bogen), im Gottscheer Land (35 Bogen), in der Schweiz (1.785 Bogen), in Polen jenseits der alten Reichsgrenze (396 Bogen), in Südtirol (485 Bogen), in den sieben und dreizehn Gemeinden der zimbrischen Mundarten in Norditalien (je 1 Bogen) sowie in Nord- und Ostfriesland (67 Bogen). Zusätzlich gingen 2.050 fremdsprachige Bogen ein (z. B. Jiddisch mit seinen spezifisch jüdischen Ausprägungen des Deutschen). Damit wurden insgesamt 51.480 Bogen aus 49.363 Orten mit einer deutschsprachigen Bevölkerung erhoben. Inzwischen liegen Wenkerbogen aus weiteren deutschen Sprachinseln im Ausland (z. B. Russland) vor.
Das gesamte Material ist im Forschungszentrum Deutscher Sprachatlas archiviert.
Die dialektologischen Forschungen an der Universität Marburg hatten einen großen Einfluss auf die deutsche Dialektologie. Aufgrund der Sprachatlasmaterialien wurden die Grundzüge der dialektalen Gliederung des deutschen Sprachraums sowie wesentliche Ergebnisse der Laut- und Formengeschichte des Deutschen erarbeitet. Außerdem brachte die Methodik in der Datenerhebung mittels Fragebögen und der Datenauswertung in Karten einen entscheidenden Fortschritt. Der Vorteil der Methodik liegt in der extrem hohen Belegdichte, da nahezu jeder Schulort des damaligen Deutschen Reiches sowie zahlreiche Schulorte außerhalb des Reiches erfasst wurden.
Die Kritik an der Methodik kristallisiert sich vor allem an der indirekten Befragung. Die Dialekte mussten mittels des normalen Alphabets geschrieben werden, was keinen Raum für linguistische Feinheiten lässt. So entziehen sich viele Dialekterscheinungen (zum Beispiel Vokaldauer, Akzentuierung, Konsonantenschwächung) weitgehend dem Zugriff des Sprachatlas. Außerdem wurden die Fragebögen von linguistisch nicht geschulten Lehrern ausgefüllt, die zudem selbst entscheiden konnten, ob sie im örtlichen Dialekt kompetent genug waren oder ob sie weitere Informanten hinzunahmen. Somit stellt sich das Problem der Laienverschriftung ebenso wie die fehlende Informantenverifikation.
Die Spezifika des DSA treten nicht zuletzt im Vergleich zu dem nahezu synchron erhobenen Atlas linguistique de la France von Jules Gilliéron (1854–1926) hervor, der in mehrfacher Hinsicht eine methodologische Alternative darstellt. Gilliéron gab der direkten Datenerhebung den Vorzug. Nur eine Person, der phonetisch geschulte Explorator Edmond Edmont (1849–1926), führte von 1897 bis 1901 die gesamte Erhebung durch. Hierdurch konnte eine präzise phonetische Transkription erfolgen, allerdings musste das Ortsnetz sehr viel großmaschiger ausfallen als bei Wenker (639 Orte statt 40.000). Die weitere methodologische Entwicklung, nicht nur international, sondern auch in Deutschland, folgte der französischen Methode, wonach man die Daten zumeist in direkter Befragung durch Sprachwissenschaftler erhob.
Die Wenker-Daten wurden in jüngerer Zeit recht eigentlich wiederentdeckt. Der Marburger Sprachwissenschaftler Alfred Lameli wertete die Wenker-Daten in arealtypologischer Hinsicht aus und konnte mittels der Anwendung eines differenzierten Arsenals quantitativer Methoden Abstand und Nähe der verschiedenen hoch-, mittel- und niederdeutschen Dialekte deutlich machen.[2] Der früher in Marburg tätige Jürg Fleischer wertete in einem von einem Opus-magnum-Stipendium der Volkswagenstiftung unterstützten Projekt die Wenkersätze in syntaktischer und morphosyntaktischer Hinsicht aus; von Wenker und seinen Mitarbeitern und Nachfolgern waren diese lediglich in lautlicher, morphologischer und lexikalischer Hinsicht ausgeschöpft worden. Das Projekt ermöglicht somit eine erstmalige Gesamtübersicht syntaktischer Phänomene in den Dialekten des gesamten deutschen Sprachgebiets.[3]
Der Digitale Wenker-Atlas (DiWA) ist das Ziel eines Projekts, bei dem alle Karten des DSA verfilmt, digitalisiert und geokodiert werden. Damit wird die Erhaltung der erarbeiteten Daten erreicht, denn der DSA ist gefährdet, weil er nur in zwei Originalen existiert und die in den Kartensätzen verwendeten 22 Farben zu verblassen beginnen. Die Karten, die aus technischen und finanziellen Gründen nie vollständig publiziert wurden, werden über das Internet einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Durch die Einbindung von Tonaufnahmen der Wenkersätze soll eine interaktive multimediale Erlebniswelt entstehen.
Durch die Geokodierung bildet der Digitale Wenker-Atlas ein Geografisches Informationssystem (GIS), das neuartige Analysemöglichkeiten bietet. Die Sprachkarten können mit gleichartig kodiertem Material in Verbindung gebracht werden, unter anderem mit kulturhistorischen und demografischen Informationen. Das historische Material der Wenker-Karten kann mit Karten aus Erhebungen für moderne Regionalatlanten überlagert werden, wodurch sich die Dialektentwicklung in zeitlicher und räumlicher Perspektive untersuchen lässt. Das im Jahr 2001 gestartete Projekt DiWA ist beim Forschungszentrum Deutscher Sprachatlas in Marburg angesiedelt und wird über die Deutsche Forschungsgemeinschaft finanziert. Bereits 2003 waren die 576 Karten online einsehbar, wofür 1 Terabyte an Daten bereitgehalten wird.
Endgültige Fassung der Wenkersätze (1880):
Süddeutschland: Als zusätzliche Lemmata wurden heiß, nein, blau, grau, hauen, Hand, Hanf, Helm, Flachs, er wächst, Besen, Pflaumen, Brief, Hof, jung, krumm, Sonntag, Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag, Samstag, elf, fünfzehn, sechzehn und fünfzig erhoben. Außerdem wurden Nasalierung, geschlossenes vs. offenes /e/, apikales vs. uvulares /r/, stimmhaftes vs. stimmloses /s/, Lenis vs. Fortis und dialektale Aussprache des Ortsnamens abgefragt.
Luxemburg: Hier wurden Norden, irden, morden, Vorderbein, mit seinen Pferden, Herde, Hirten, Gürtel, Karten, die harten Wörter, Gartenbohne, Kraft, Luft, stiften, Hintergeschirr (vom Pferde) und du haust als zusätzliche Lemmata abgefragt. Die Lemmata Brief, Hof fielen weg.
Schweiz: Für die Erhebung der Schweiz wurde der süddeutsche Bogen um das Lemma Kartoffel ergänzt.
(von 1973 bis 1998 übernahm ein Direktorium die Leitung, 1999 war die Institutsleitung unbesetzt)
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