Dashavatara-Tempel
Tempel in Indien Aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
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Der vermutlich um 500 n. Chr. erbaute und vergleichsweise gut erhaltene Dashavatara-Tempel (auch Gupta-Tempel genannt) in der Nähe des Dorfes Deogarh (Hindi देओगढ़) im Distrikt Lalitpur des heutigen Bundesstaates Uttar Pradesh (Nordindien) gehört zu den frühesten freistehenden Tempelbauten Indiens. Wegen seiner abgelegenen Lage blieben seine künstlerisch bedeutsamen Außenreliefs auch in islamischer Zeit unversehrt.
Von der Stadt Lalitpur in Uttar Pradesh aus ist der ca. 32 km südwestlich gelegene kleine Ort, der sich oberhalb einer von Felsen gesäumten Biegung des Flusses Betwa befindet und ehemals eine bedeutende Pilgerstätte für Jainas und Hindus war, per Bus oder Taxi zu erreichen.
Der Name Dashavatara (von daśa = „zehn“ und avatāra = „Inkarnation“) bezieht sich auf die zehn Avataras des Gottes Vishnu, dem dieser Tempel geweiht ist. Zwar ist in der Cella (garbhagriha = „Mutterschoß-Kammer“) kein Kultbild des verehrten Gottes mehr zu finden, jedoch lässt sich der Sakralbau vor allem anhand der Außenwandreliefs eindeutig als Vishnu-Tempel identifizieren.
Der aus rotem Sandstein errichtete Tempel steht in der Mitte einer quadratischen ca. 16,90 m breiten Plattform (jagati), die auf allen vier Seiten über breite – vor der Terrasse liegende und durch seitliche Mauern gesicherte – Treppen zugänglich ist. Vom Tempel selbst ist nur die – nicht durch Jali-Fenster belichtete – quadratische Cella (garbhagriha) erhalten. Sie ist nach Westen geöffnet und außen ca. 5,60 m breit, innen dagegen nur etwa 3,10 m; die Wandstärke des Tempelbaus beträgt folglich etwa 1,25 m. An drei Außenseiten der Cella befinden sich fensterartige Nischen mit figürlichen Reliefs. Vom kaum noch erhaltenen Turmaufbau ragt nur noch der Kern aus teilweise unbehauenen Natursteinen ca. 3,50 m in die Höhe. Vor den vier Ecken der Plattform befanden sich einst vier ca. 3,30 m breite quadratische Nebenschreine, von denen lediglich die Grundmauern erhalten sind.
In architektonischer Hinsicht ist dieser Tempel von großer Bedeutung. Er stellt nicht nur eines der ersten Beispiele für einen Ideal-Aufbau eines nordindischen Tempels, bestehend aus einem Haupttempel und vier Nebenschreinen (panchayatana) dar, sondern ist auch einer der ersten Tempelbauten, welche einen für den späteren indischen Nagara-Stil charakteristischen Turmaufbau besitzen. Auch die vertikale Dreiteilung der Tempelseiten ist bei früheren indischen Steintempeln unbekannt – die Existenz hölzerner Vorbilder ist jedoch wahrscheinlich.
Während die Plattform gegen Ende des 20. Jahrhunderts restauriert wurde, ist eine Rekonstruktion des Dachaufbaus (Pyramide oder Shikhara) aufgrund seines ruinösen Zustands schwierig. Die Steilheit der Proportionen weist eher auf die Frühform eines Shikhara-Turms hin als auf ein (evtl. gestuftes) Pyramidendach wie beim Gop-Tempel in Gujarat. Die Cella (garbhagriha) war ursprünglich wahrscheinlich von einem – auf Holzstützen ruhenden – überdachten Umwandlungsgang umgeben, der, wie der Tempel selbst, auf allen Seiten durch einen vorspringenden Mittelteil in drei Teile gegliedert wurde. Der Umwandlungsgang selbst ist nicht mehr erhalten; sein Vorhandensein erklärt aber sehr gut die Terrassengröße, welche sonst überdimensioniert wäre.
Vor den Relieffeldern in der Außenwand befanden sich vermutlich Vorbauten, die von quadratischen Säulen getragen wurden. Am Eingang des Tempels ist eine ähnliche Konstruktion für den kleinen Eingangsportikus denkbar; dieser wurde von den zwei runden Säulen getragen, die auf der Terrasse gefunden wurden.
Das Dekor des Tempels lässt sich im Wesentlichen zweiteilen: zum einen gibt es die Westseite mit dem mit Ornamentbändern und kleineren Reliefs reich verzierten Türportal, zum anderen die drei übrigen Seiten, die jeweils ein großes Fensterrelief aufweisen.
Der Eingang zum Hauptschrein ist 2,10 m hoch und ca. 1 m breit und stand immer offen – hölzerne Türen waren bei indischen Tempeln unbekannt. Der Rahmen hat die für frühe indische Tempel typische T-Form, die ältere Holzkonstruktionen zum Vorbild hat, und besteht aus vier Ornamentbändern, an deren unteren Enden jeweils eine Figur steht. Von innen nach außen betrachtet steht auf beiden Seiten zuerst eine größere männliche Figur mit Nimbus hinter dem Kopf, gefolgt von zwei kleineren Begleiterinnen. An den äußeren Seiten steht jeweils ein kleines dickbäuchiges himmlisches Wesen, ein gana, der mit beiden Händen einen verzierten Topf hochhält.
Die Bänder werden im Folgenden von außen nach innen beschrieben:
An der Nord-, Ost- und Südseite des Tempels befinden sich jeweils zentral platzierte umrahmte Nischen in Fensterform von ca. 1,50 m × 1,20 m Größe, welche erstaunlich gut erhaltene Reliefs bergen und von reichgeschmückten Pfeilervorlagen seitlich begrenzt werden. Die beinahe freiplastische Darstellung der Figuren ist von so außergewöhnlicher handwerklicher Perfektion und künstlerischer Ausdrucksstärke, dass man annehmen muss, dass sie – vor nunmehr ca. 1500 Jahren – vom selben Künstler geschaffen wurden.
Nordseite
Die Wandnische auf der Nordseite zeigt ein Relief mit der Episode der Errettung des Elefanten (gajendra-moksha) durch Vishnu. In der abgebildeten Szene steht ein Elefant – in der Hindu-Ikonographie oft als Träger von Tempeln dargestellt und somit als Träger der kosmisch-religiösen Ordnung (manchmal auch als Sinnbild der menschlichen Seele) verstanden – in einem Lotus-Teich, die Beine umschlungen von den Schlangenschwänzen eines Naga und einer Nagi.
Seine Rettung – und damit die Bewahrung der kosmischen Ordnung – kommt in Gestalt des Gottes Vishnu. Dieser sitzt, den Kopf leicht zur Seite geneigt und eine seiner ehemals vier Hände lässig auf sein linkes Knie gestützt, auf dem – meist als Vogelmensch dargestellten – Sonnenadler Garuda, seinem vahana, welcher in uralter Feindschaft zu Schlangen steht. Vishnu trägt eine Topfkrone und hält seine typischen Attribute in Händen: eine Keule (gada) und ein Muschelhorn (shankha) sind noch erhalten; der bereits geworfene Diskus (chakra) steckt in der Brust des Schlangenkönigs. Das anthropomorph dargestellte Schlangenpaar bittet – die Hände in Anbetungshaltung gefaltet – um Vergebung, während der Elefant mit seinem Rüssel dem Gott einen Strauß mit Lotusblumen (padma) – seinem vierten Attribut – in die Höhe reicht.
Oberhalb des Paneels, in einer separaten Tafel, halten „Himmlische Paare“ (mithunas) im Knieflug eine etwas überdimensionierte Krone direkt über das Haupt Vishnus.
Ostseite
Die Nische auf der Ostseite zeigt die selten dargestellte Doppelinkarnation Vishnus in Form zweier Asketen: Nara-Narayana. Beide sitzen – in entspannter Sitzhaltung mit einem angewinkelten und einem herabhängenden Bein – auf Felsen unter Bäumen, zu ihren Füßen Rehe und Löwen. Sie halten eine Gebetskette und tragen als Zeichen der Askese ein Antilopenfell über der linken Schulter sowie ein leichtes Gewand mit Hüftgürtel.
Im Gegensatz zu Nara ist Narayana vierarmig dargestellt. Er hält seine rechte untere Hand in der Argumentationsgeste (vitarkamudra) vor die Brust. In seiner linken unteren Hand hält er eine langhalsige Flasche; das Attribut in seiner linken oberen Hand ist nicht deutlich erkennbar. Als Asket trägt Vishnu/Narayana nicht die übliche Topfkrone, stattdessen ist sein – auch über die Schultern herabhängendes – Flechtenhaar zu einer Haarkrone hochgesteckt. Hinter jedem steht eine bärtige Figur. Über ihnen sind „Himmlische Paare“ im Knieflug zu sehen und im Zentrum befindet sich eine kleine fliegende weibliche Figur, die als Nymphe Urvashi interpretiert wird.
Wie auf der Nordseite gibt es auch hier eine separate Tafel oberhalb der Szene. Sie zeigt den vierköpfigen Brahma im Zentrum, begleitet von einem fliegenden Paar auf jeder Seite.
Südseite
Auf der Südseite ist eines der beliebtesten Motive der Vishnu-Ikonographie zu sehen, welches überdies eng verknüpft ist mit einem hinduistischen Schöpfungsmythos: In vollkommen entspannter Haltung und sein Haupt in die Hand eines seiner vier Arme gestützt liegt der meditierende bzw. träumende Gott Vishnu auf der kosmischen Schlange Ananta („Unendlichkeit“) oder Shesha („Bleibende“, „Ewige“), deren gewundener Körper wie eine Reihe von Kissen wirkt und deren sieben Köpfe eine schützende und jegliches Unheil fernhaltende Haube über seinem Kopf bilden. Zu seinen Füßen sitzt seine Gemahlin Lakshmi und streichelt bzw. massiert sein rechtes Bein. Hinter ihr befinden sich zwei Figuren, möglicherweise die Göttin Bhudevi („Göttin, die die Erde ist“) sowie Garuda. Der vierarmige Vishnu trägt eine kunstvolle zylinderförmige Topfkrone und ist reich geschmückt.
Im oberen Teil des Paneels sitzt der vierköpfige Brahma im Zentrum eines blühenden Lotus und trägt ein Antilopenfell über seiner linken Schulter. Zu seiner Rechten wird er von Indra auf dem Elefanten als vahana und von Karttikeya auf dem Pfau flankiert; zu seiner Linken sind andere Götter oder himmlische Wesen dargestellt.
Unterhalb der Hauptszene befindet sich eine separate Abbildung von sechs Figuren. Ganz links sind die beiden Asuras (Dämonen) Madhu und Kaitabha dargestellt; die anderen vier Gestalten werden oft als die personifizierten Waffen Vishnus sowie als seine Gemahlin Lakshmi interpretiert.
Der Dashavatara-Tempel ist von herausragender kunsthistorischer Bedeutung, da die hervorragend gearbeiteten und gut erhaltenen Reliefs sowie der Portalschmuck die wichtigsten Arbeiten des späten Gupta-Stils darstellen; einige Themen sind hier zum ersten Mal in der indischen Kunst in einem Steinrelief dargestellt – mögliche hölzerne Vorbilder sind nicht erhalten. Darüber hinaus ist seine Bauweise wegweisend für den sich entwickelnden Nagara-Stil der nordindischen Tempelarchitektur.